Der Deutsche - ein Gewohnheitstier

Nicht nur ein Historiker mit Renommee, sondern selbst auch "ein Kind der Bundesrepublik", ist Hans-Ulrich Wehler prädestiniert, um Vorträge über die jüngere deutsche Geschichte zu halten. Hochkonjunktur im Jahr der 60- und 20-Jahr-Feiern hat der emeritierte Professor und Buchautor derzeit. Die Einladung von Stadtbibliothek, Uni und Volkshochschule in die Promotionsaula, um über "1949 bis 1989 - Begünstigung und Bürde der Bundesrepublik" zu sprechen, nahm er trotzdem an.

 Ein Kind der Bundesrepublik: Historiker Hans-Ulrich Wehler ist Experte für jüngere deutsche Geschichte. TV-Foto: Cordula Fischer

Ein Kind der Bundesrepublik: Historiker Hans-Ulrich Wehler ist Experte für jüngere deutsche Geschichte. TV-Foto: Cordula Fischer

Trier. Eine Erfolgsgeschichte, die zur Bürde wird: Dieses Bild zeichnet Hans-Ulrich Wehler vom Beginn der Bundesrepublik Deutschland durch die Zeiten des Wirtschaftswunders bis in die Gegenwart. Warum das so ist, das weiß der Historiker versiert und in freier Rede zu erklären, ohne zu stocken, ohne zu straucheln. Der Lastenausgleich, die dynamische Rente, eine geheime Agrarrevolution, Schuldentilgung, Wiedergutmachung, Bauboom - das Wirtschaftswunder ist die Stabilitätsbasis für den Neustart, und "der Vulkan des deutschen Nationalismus erlischt". An dessen Stelle tritt die Hinwendung zu einem vereinigten Europa, damals noch als "unbestätigtes Projekt".

Stolz ist verkommen zum Wachstumsfetischismus



All dies macht Deutschland führend auf dem Weltmarkt und zum Exportweltmeister. Doch das ist wenig geeignet, um Dauerzustand zu bleiben. Es gilt, einen Preis für den Erfolg zu zahlen, weiß Wehler. Der "Leistungsstolz" der Deutschen sei zum "Wachstumsfetischismus" verkommen, das Vertrauen auf "den Erfolg der Routine" verhindert Innovation und Entwicklung eines neuen "Leitsektors", und schließlich ist das Volumen von Einkommen und Vermögen seit 1950 zwar gestiegen, die prozentuale Verteilung aber gleich geblieben. Der Deutsche scheint, wie Wehler ihn beschreibt, ein Gewohnheitstier zu sein.

Aber er attestiert der Bundesrepublik auch "außerordentliche Lernfähigkeit" - vor allem in der Auseinandersetzung mit der eigenen "schwarzen Vergangenheit", die seit den 1980er Jahren die Mehrheit der westdeutschen Staatsbürger durchlaufen hat. Und diese Lernfähigkeit gebe Anlass zur Hoffnung selbst in Zeiten, da die "Mischung aus Habgier und krimineller Energie" und auf der anderen Seite "Vertrauensseligkeit" die Welt in die schlimmste Krise der letzten 100 Jahre gestürzt hat.

Aber "diese Lernfähigkeit ist kein Automatismus", sondern funktioniert "nur mit öffentlichem Druck". Und den aufzubauen, "daran sollte sich jeder Staatbürger beteiligen", fordert Wehler die Zuhörer in der vollbesetzten Promotionsaula auf, den Wunsch nach Veränderung nicht zuletzt bei den Wahlen im Sommer zu artikulieren.

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