Pandemie Wie Corona den Stadtteilen neues Gewicht verleiht

Trier · Wird der Radius kleiner, steigt die Bedeutung der direkten Umgebung. Was das heißt, erfahren derzeit die Trierer Ortsvorsteher, die zugleich Krisenmanager oder Seelsorger sind – und notfalls auch den Arbeitsvermittler und die Bank ersetzen.

 Viele Trierer halten sich an Helmut Leiendeckers Appell – hier klebt Jürgen Müller eins von 200 Plakaten in der Stadt – und bleiben zu Hause. Nicht nur dadurch verändert sich derzeit die Rolle des direkten Umfelds.

Viele Trierer halten sich an Helmut Leiendeckers Appell – hier klebt Jürgen Müller eins von 200 Plakaten in der Stadt – und bleiben zu Hause. Nicht nur dadurch verändert sich derzeit die Rolle des direkten Umfelds.

Foto: Ernst Mettlach

  Hier fehlt ein Pfosten, dort eine Markierung. Solche Hinweise erhält Werner Gorges derzeit viel häufiger als üblich. „Die Leute bewegen sich fast nur im Stadtteil. Sie gehen spazieren und nehmen ihre direkte Umgebung intensiver wahr.“ Auch Beglaubigungen stellt der Tarforster Ortsvorsteher ungewohnt oft aus. Vor der Krise hätten die meisten Menschen das im Rathaus erledigt, nun seien sie froh, nicht in die Stadt zu müssen. „Bei uns funktioniert das kontaktlos: Wer den Stempel braucht, wirft mir die Unterlagen in den Briefkasten. Wenn ich spazieren gehe, bringe ich sie zurück.“

Auch die Menschen in der Nachbarschaft geraten stärker in den Blick. Was auf dem Land und in dörflichen Stadtteilen wie Kernscheid üblich ist, beobachten derzeit fast alle Trierer Ortsvorsteher: eine enorme Hilfsbereitschaft vor Ort, die die Nachfrage teilweise weit übertrifft.

„Hilfe in der Krise muss im Stadtteil ansetzen“, sagt Rainer Frei­schmidt von der Trierer Ehrenamtsagentur. Er hat Unterstützungsangebote und Ansprechpartner in allen 19 Stadtteilen aufgelistet. „Gerade ältere Leute misstrauen Angeboten von außen.“ Auch Michael Düro, Ortsvorsteher von Mitte/Gartenfeld, sagt: „Die vorhandenen Strukturen in den Stadtteilen haben sich in der Krise nicht nur bewährt, sondern auch den umsichtigen Umgang mit der Situation vor Ort entscheidend getragen.“

Christiane Probst hat die Solidarität des direkten Umfeld selbst erfahren: Die Ortsvorsteherin von Ruwer/Eitelsbach erkrankte nach einem Skiurlaub in Kitzbühel an Covid-19. Die Infektion verlief unproblematisch, doch dann entzündete sich ein Zahn. Probst musste operiert werden – im Trierer Corona-Krankenhaus. „Was ich in dieser Zeit an Rückmeldung im Stadtteil bekommen habe, ist einfach toll. Die Gemeinschaft wächst in der Krise.“

Marc Borkam berichtet nicht nur von „sehr viel Sensibilität“ für hilfsbedürftige Nachbarn in Trier-West/Pallien. Er beobachtet auch neue Dynamiken – etwa, wenn sich das Gerücht verbreitet, am Römerbrückenkopf würden Bäume gefällt. „In unserem Stadtteil wird bekanntlich viel gebaut, und in diesem Kontext sorgen derzeit immer wieder solche Fake News für Aufregung.“ Borkam erklärt sich das mit der Einschränkung der Kommunikationswege in der Krise. „Es wird viel mehr über soziale Netzwerke kommuniziert als üblich.“ Landen mal wieder aufgeregte Anrufe oder Facebook-Nachrichten bei Borkam, hört er im Rathaus nach und spielt die korrekte Info zurück. Der Ortsvorsteher versteht sich als Bindeglied zwischen Bürgern und Stadt, gerade jetzt.

Auch Rainer Lehnart kümmert sich in seinem Stadtteil Feyen/Weismark um Probleme, die übergeordnete Ebenen nicht im Blick haben können. In den Tagen nach dem Lockdown war trotz städtischer Verbotsschilder auf dem Spiel- und Sportgeräteplatz am Mattheiser Weiher ordentlich was los. Da besorgte der Ortsvorsteher rot-weißes Absperrband und riegelte die beiden Plätze eigenhändig ab.

Und einigen Pfalzelern wäre ohne die Ortsvorsteherin in der Krise das Geld ausgegangen: Als die Sparkasse schloss, erreichten Margret Pfeiffer-Erdel Hilferufe älterer Pfalzeler, die mit dem Geldautomaten nicht zurecht kamen. Sie bat beim Sparkassen-Vorstand um Abhilfe. „Bei dem einen oder anderen bin ich auch mit an den Automaten gegangen und habe geholfen.“

Dirk Löwe in Trier-Nord sammelt derweil zweimal pro Woche bei Bäckereien Lebensmittelspenden ein und verteilt sie an Institutionen im Stadtteil, weil die Tafel geschlossen ist. Auch die Entsorgung von Sperrmüll, der wegen der Krise liegengeblieben war, hat er geregelt. Und als Studierende ihn nach Beschäftigungsmöglichkeiten fragten, vermittelte er einige als Hausaufgabenhilfe ans Exhaus und andere an Bauern, die ihm zuvor auf dem Wochenmarkt von ihren Problemen durch ausbleibende Feldarbeiter aus Osteuropa erzählt hatten. Löwe versucht, der Einstellung vieler Trier-Norder gerecht zu werden: „Der Ortsvorsteher muss wissen, was zu tun ist.“

Dass sich die sublokale Ebene derzeit als so wichtig erweist, sollte auch nach der Corona-Zeit nicht vergessen werden, mahnt Rainer Freischmidt, der Experte für die Hilfe vor Ort. „Es gibt ja immer wieder Diskussionen darüber, Stadtteile zusammenzulegen. Aber Ansprechpartner, die man kennt, sind unabdingbar, und der Ortsvorsteher ist ein wichtiger Draht zu den Bürgern. Das sollte im Nachhinein reflektiert werden.“

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