Die Kinder der Kult-Kommune

TRIER-SÜD. Es ist kalt, laut, voll und vor allem bunt in ihrem Zuhause. Überall stehen Erinnerungen - an längst ausgezogene Unbekannte. Seit Anfang der 70er-Jahre werden in der Saarstraße 108 alternative Wohnformen gelebt. Die sechs jüngsten Nachkommen schwärmen noch immer von der großen Gemeinschaft.

 Alternatives Wohnprojekt ohne Heizung, aber mit viel Idealismus. Die jüngste Generation: Frank Richards, Nina Harder, Christian Stumpf, Regina Wiltes, Andreas Kremer und Melanie Wagner (von links).Foto: Regina Lüders

Alternatives Wohnprojekt ohne Heizung, aber mit viel Idealismus. Die jüngste Generation: Frank Richards, Nina Harder, Christian Stumpf, Regina Wiltes, Andreas Kremer und Melanie Wagner (von links).Foto: Regina Lüders

"Ich halte es hier nicht mehr aus. Die Leute und ihr Gequatsche …" - seitenlang hallt der stumme Aufschrei aus den wilden Kommunenjahren vom Speicher: Regina Wiltes hält ein Tagebuch von 1972 in der Hand: "Damals haben hier noch elf Leute zusammen gewohnt - und sind anscheinend halb wahnsinnig dabei geworden", erzählt die 23-Jährige. Frank, Melanie, Christian, Nina, Regina und Andreas wohnen erst seit höchstens zweieinhalb Jahren hier, der Älteste ist gerade 26 geworden und arbeitet als Pizzafahrer, alle anderen studieren Geographie. Obwohl schon ihre Mietanteile ab 130 Euro mit allen Nebenkosten ein Stück Zeitreise sind, einmalig sei vor allem "die Gemeinschaft, wenn man zusammen Wurzeln rodet, Gemüse anpflanzt und einfach lebt", erzählt Frank Richards. Man lerne da auch, seine Grenzen abzustecken, findet er. "Und hoffentlich bald mal putzen", ergänzt seine Mitbewohnerin Nina Harder augenzwinkernd."Irgendwer kocht immer was"

Im Flur warnt noch eine Kreidenachricht vor Schimmelbefall im Kühlschrank. Nun hätten die Mädels endlich eine kühltechnische Geschlechtertrennung durchgesetzt, freut sich Nina. "Aber eigentlich ist unsere Küche wie 'ne Frittenbude", sagt WG´ler Christian Stumpf. "Irgendwer kocht immer was, und der Rest zeckt sich durch", bestätigt Regina. Besuch sei meistens da. "Alleine wohnen könnte ich mir gar nicht vorstellen", gesteht das Mädchen mit dem dicken Frostschutz-Pulli: "Es ist doch so schon schlimm genug, wenn ich mal abends nach Hause komme und es ist gerade keiner da". Bei Frank oben bollert der Ofen auf Volldampf gegen die Winterkälte. Zentralheizung gibt es im ganzen Haus keine. Die Flammen in der schwarzen Emaille schlagen gelb knisternd und knackend hoch. Ein paar rauchige Schwaden ziehen aromaschwer durchs Zimmer. "Genau wegen dieser Atmosphäre bin ich aus meiner eigentlich coolen alten WG hierher gezogen - und wegen des Gartens natürlich", sagt er. Nebenan ist das einzige Badezimmer der sechs Mitbewohner - seit unsäglichen Zeiten als Facharztpraxis für innere Krankheiten beschildert. Dahinter liegt, was sie ihre "Veranda" nennen: Ein leicht abschüssiges Flachdach, auf dem, wer will, im Sommer frühstückt, trommelt und Gitarre spielt: "Manchmal gibt es den ganzen Tag lang Goa-Sound", sagt Frank und grinst. Das Verhältnis zu den Nachbarn sei trotzdem gut. So soll es im Sommer denn auch wieder Hühner auf dem Hof geben: "Mindestens zehn", findet er - und "mit Hahn". Dabei ist schon ihr jüngster Mitbewohner, Kater Fred, mit seinen ausgedehnten Ausflügen häufigster Streitpunkt untereinander. Gerade läuft der Getigerte wieder auf nächtlicher Tour die abgewetzten Stiegen Richtung Keller hinunter. "Hier haben die Leute früher ihr Vieh gehalten", sagt Frank, zeigt den unterirdischen Schweinestall und einen versteckten Stein, der das Haus über 150 Jahre alt nennt. Jetzt feiern sie hier zwei oder drei große Parties mit über 100 Gästen pro Jahr. Im großen verwilderten Garten dahinter baumeln vom Holzgerippe der selbstgebauten Schwitzhütte kleine Kult-Knochen. "Die Steine da heizen wir an, legen sie in die Mitte, die Plane kommt drauf, und dann gehen wir da nackt rein", erklärt Frank die improvisierte WG-Sauna. Das Traditionsterrain, auf dem die jungen Leute leben, strotzt vor Relikten vergangener Wohngemeinschafts-Generationen. Ein WG-Foto von 1996 hängt unauffällig in der Küche. Eine Karte am Pinboard grüßt seit 1978 eine Andrea Thull. Die Telefonrechnung läuft auf Thomas Heinze, den keiner mehr kennt. Die Geister vergangener Jahrzehnte spuken noch immer durchs gerissene Mauerwerk, pfeifen durch die Dachpappe, mit der der halbe Speicher nur noch notdürftig überspannt ist, wehen durchs halb eingestürzte Nebengebäude und sitzen jetzt hier mit der jüngsten Generation ihrer Nachfahren gemeinsam am endlich warm gewordenen Wohnzimmerofen.

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