Die Tradition gewahrt

TRIER. (aw) Während eines musikalisch-literarischen Abends stellte Anatol Regnier, Musiker und Schriftsteller, Enkel Frank Wedekinds und Sohn Pamela Wedekinds und des Schauspielers Charles Regnier, in der Akademischen Buchhandlung sein zweites Buch "Du auf deinem höchsten Dach" vor.

Anatol Regnier greift hinter sich zur Gitarre und bettet einen Chanson Frank Wedekinds in die gelesenen Passagen. Er braucht nicht lange, um die Hörer in gespannte Aufmerksamkeit zu versetzen, sie zu entführen in die Wedekindsche Welt, die er in "Du auf deinem höchsten Dach" aus einer teilweise neuen Perspektive beleuchtet. Bislang Unbekanntes bringt die Familienbiographie vor allem über Tilly, die Frau des großen, aber seinerzeit auch äußerst umstrittenen Schriftstellers Frank Wedekind, und die beiden Töchter Pamela und Kadidja hervor. Regnier wertete das unter Verschluss gehaltene Familienarchiv aus und zeichnet ein Bild dreier Frauen, deren eigene künstlerische Selbstverwirklichung dem Druck berühmter Männer standhalten musste. Für Tilly Newes, ab 1906 Wedekind, äußerte sich dieser Konflikt in einer zwölf Jahre dauernden zermürbenden Ehe. Die Schauspielerin lernte Frank Wedekind in Wien kennen. Dort spielte sie die "Lulu" in seinem Stück "Die Büchse der Pandora". Später wurde sie zu seiner Bühnenpartnerin. Wedekind war 22 Jahre älter und hatte längst die großen und oft provokanten, teils autobiographischen Dramen geschrieben, rang aber noch um die gewünschte öffentliche Anerkennung, die ihm erst nach seinem Tod zuteil werden sollte. Dieser Komplex prägte auch das Verhältnis zu seiner Frau. Er vergötterte sie, "verlangte aber auch eine kolossale Respektierung seiner Person". Ihre eigene schauspielerische Karriere gab Tilly später zu Gunsten ihres Mannes auf. Das Kräftezehrende der Ehe spiegelt sich wortgewaltig in den von Regnier gelesenen Briefausschnitten wider. Die Beziehung gipfelte in Tillys zweitem Sebsttötungsversuch - der erste ging der Ehe voraus. "Einer ist zuviel, wenn er nicht stirbt, will sie" heißt es im Text. Tilly überlebte jedoch, Frank Wedekind starb. Sein Tod ließ sie aufblühen, auch wenn ihr Hang zur Melancholie in manische Depressionen umschlug. Sie hatte zahlreiche Verehrer und eine langjährige, ungleiche Beziehung zu dem Dichter Gottfried Benn, "der Mann, den sie lange und vergeblich gesucht" habe. Benns Name bleibt nicht der einzige bekannte, der neben dem Wedekindschen fällt. Regnier macht das Netz sichtbar, das sich in den 20er-Jahren quer durch die Künstlersphäre spannte. Pamela, die älteste der beiden Wedekindtöchter war eng befreundet mit den Thomas-Mann-Kindern Klaus und Erika. Alle drei "mussten" berühmt werden. Es kristallisiert sich heraus, was Regnier das "unterliegende Thema des Buches" nennt: hineingeboren zu sein in eine Familie berühmter Künstler und eine Verpflichtung spüren, die Tradition fortsetzen zu müssen. Und Regnier selbst - als Enkel Frank Wedekinds, Sohn Pamelas und des bekannten Schauspielers Charles Regnier? Er fühle sich gut, sagt er. Vielleicht sei er aber auch absichtlich nicht Schauspieler geworden wie sein Vater. Die Familientradition setzt er dennoch fort. Er ist bekannt - als Musiker und Schriftsteller.

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