Ein Paradies für Titel, aber nicht für Sportler

Trier · Zeitzeuge Wolfgang Thüne spricht mit Schülern über seine Flucht aus der DDR und die dortigen Bedingungen für den Leistungssport.

 Wolfgang Thüne, Ex-DDR-Turner, berichtet Schülern des HGT von seinem früheren Leben als Sportler und der Flucht in den Westen. TV-Foto: Martin Recktenwald

Wolfgang Thüne, Ex-DDR-Turner, berichtet Schülern des HGT von seinem früheren Leben als Sportler und der Flucht in den Westen. TV-Foto: Martin Recktenwald

Foto: Martin Recktenwald (ten) ("TV-Upload Recktenwald"

Trier Geschichte habe er nie so spannend empfunden wie Geschichten, sagt Wolfgang Thüne. Deshalb erzählt er lieber von persönlichen Erfahrungen, die jedoch als Zeitzeugenbericht einen direkten Einblick in die Historie der DDR gewähren - insbesondere den Umgang des Systems mit Leistungssportlern. Bei den Schülerinnen und Schülern der zehnten Klassen am Humboldt Gymnasium Trier (HGT) kam diese Art des Geschichtsunterrichts gut an. Zwei Stunden lang folgten sie den Berichten des ehemaligen Profi-Kunstturners und hakten mit Fragen nach.
"Haben Sie Ihre Flucht geplant?", wollte eine Schülerin wissen. Wann und wo er es tun wollte, nämlich bei den Europameisterschaften 1975 in der Schweiz, das habe er sich lange vorher überlegt. Nur das "Wie" war bis zum Schluss noch nicht konkret.
Bereits in den Vorjahren hatte er den westdeutschen Turner Eberhard Gienger kennengelernt und trotz Verbots einige Gespräche mit ihm geführt. An jenem Abend beim Abschlussbankett in Bern setzte Thüne spontan sein Vertrauen in diesen Wettkampfgegner, der ihm noch im Vorjahr bei den Weltmeisterschaften geschlagen hatte. "Ich habe gewartet, bis er zur Toilette ging, bin ihm gefolgt und habe gefragt: ,Ich will fliehen, hilfst du mir?', erinnert sich Thüne. Es folgte nur ein kurzer Wortwechsel: "Hast du dir das überlegt?" - "Ja, hier oder nie!" - "Dann warte hier, in einer halben Stunde treffen wir uns wieder."
Und nach besagter halben Stunde saßen sie in Giengers Opel Manta und fuhren über die Grenze nach Freiburg in die Bundesrepublik.
Warum er der DDR den Rücken kehrte, darüber wusste Thüne viel zu erzählen. Irgendwann habe er begriffen, dass das Regime total über ihn verfügen wollte. Sie mischten sich ins Private ein, untersagten ihm, sich scheiden zu lassen. Ein Sportlerkollege sei öffentlich gedemütigt und zum Karriereende gezwungen worden, nur weil er eine westdeutsche Bravo-Zeitschrift besorgt hatte. Als Thüne 1974 "nur" Vizeweltmeister wurde, zwangen sie ihn zu riskantem, ja lebensgefährlichem Training.
Er habe die Vorteile der DDR-Sportförderung seit der Kindheit genossen: intensive Betreuung, beste Trainingsbedingungen, gute Bezahlung. Aber er erlebte auch die Schattenseiten. "Wurden Sie gedopt?", sprach ein Schüler ein solches Feld an. Thüne antwortete: Doping habe es im Westen wie im Osten gegeben, mit dem Unterschied, dass es in der DDR staatlich organisiert wurde. Er selbst habe mit 18 Jahren anabole Steroide bekommen und musste eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben.
Wie hart die politische Indoktrination und Überwachung tatsächlich war, erfuhr der Turner nach der Wende aus den 1300 Seiten seiner Stasiakte. Als Folge seiner Flucht wurde etwa die Karriere seines Bruders zerstört und die Wohnung seiner Schwiegereltern verwanzt. Auch Thünes Tochter wurde das Studium verwehrt.
Auf Rückfrage einer HGT-Schülerin erzählte er von dieser "Sippenhaft-Bestrafung".

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