Erinnerung auf zehn mal zehn Zentimetern

Sie haben alle einst in Trier gelebt und wurden Opfer des Nationalsozialismus: 14 Namen stehen auf den Stolpersteinen, die der Kölner Künstler Gunter Demnig am Dienstag in Trier verlegt hat. Zum neunten Mal hatten der Kulturverein Kürenz und die Arbeitsgemeinschaft Frieden eine Stolperstein-Verlegung organisiert.

Trier. Gunter Demnig kniet nieder. Mit einer Spitzschaufel kratzt er den Schotter aus der kleinen Vertiefung im Asphalt des Gehwegs in der Sichelstraße 3. Der Name Isaak Julius Samuel ist in die Messingplatte auf dem Beton-Pflasterstein eingraviert, den der Künstler probeweise einsetzt. Der Würfel passt nicht ganz, mit einigen Hammerschlägen haut Demnig ihn zurecht.

Schüler und Lehrer des Max-Planck-Gymnasiums kommen dazu, bilden einen Kreis um den 64-Jährigen, der unbeirrt weitermacht, den Stein einsetzt, Wasser über ihn gießt, damit sich der Schnellbeton härtet. Mit einem Handbesen kehrt er den Schotter zusammen. Zum Schluss wischt er mit einem Tuch über die zehn mal zehn Zentimeter große Fläche. Geboren am 19. Dezember 1902. Ermordet 1942 in Auschwitz. Auch diese Information teilt der Stolperstein den Passanten mit.

Der Rabbiner Isaak Julius Samuel ist eines von 14 Opfern des Nationalsozialismus, deren Namen seit Dienstag auf den Gehwegen Triers zu lesen sind - unter anderem auch vor dem Brüderkrankenhaus. Zehn der Menschen sind Euthanasie-Opfer, die in den "Heilanstalten" Hadamar oder Andernach (Landkreis Mayen-Koblenz) getötet wurden. Allein in der ehemaligen psychiatrischen Klinik Hadamar in Hessen sind etwa 15 000 psychisch und körperlich kranke oder für "lebensunwert" erklärte Menschen zwischen 1941 und 1945 umgebracht worden.

Es war die neunte Verlegung, die der Kulturverein Kürenz und die Arbeitsgemeinschaft Frieden organisiert haben. Sie koordinieren das Projekt von Gunter Demnig (siehe Extra) in Trier. Insgesamt lassen nun 111 Steine in Triers Straßen stolpern. Nicht im Wortsinne. Gemeint ist das gedankliche Stolpern, das Innehalten, erinnern, gedenken.

Schüler des Max-Planck-Gymnasiums haben in einer Projektgruppe, unterstützt vom Historiker Thomas Schnitzler, über die Biografie des Rabbiners Samuel und eines weiteren Opfers recherchiert: Der Stolperstein für Friedrich Thierry liegt in der Seizstraße, vor der Tür des Hauses mit der Nummer 7.

Die Jugendlichen erzählen vom Leben der beiden, legen weiße Rosen neben die Steine. Samuel ist einst auf ihre Schule gegangen, hat dort 1922 Abitur gemacht. "Hier lernte" steht deswegen auch auf dem Stein, wo sonst "Hier lebte" eingraviert ist. Schulleiter Ludwig Weyand hat Samuels Deutscharbeit über Iphigenie auf Tauris ausfindig gemacht. Er wird sie an Angehörige von Samuel weitergeben.

Von Friedrich Thierry, ermordet 1941 in Hadamar, haben die Schüler ein gerahmtes Foto aufgestellt. Zwei Lehrer spielen Musik. Danach steht die Gruppe still. Zu hören ist nur Vogelgezwitscher und Straßenlärm. "Es ist eine Möglichkeit, sich öffentlich zu engagieren. Zu zeigen, dass auch wir Schüler Anteil nehmen", sagt der 15-jährige Sebastian Spaniol. Dass die Jugendlichen mit dabei sind, dass sie wachgehalten werden, findet Erika Tullius besonders wichtig.

Mit großem Interesse verfolgt die 85-Jährige den Vortrag. Sie ist verwandt mit Thierry: Er war der Bruder der Großtante ihres Mannes.

Gleich nebenan, in der Seizstraße 5, ist der Stein zum Gedenken an Heinrich Wetzstein eingelassen, der 1940 in Andernach getötet wurde. Er galt als Epileptiker. Raimund Scholzen hat über Wetzstein recherchiert, der der Bruder seiner Mutter war.

Nur wenig habe er vom Schicksal seines Onkels gewusst, sagt Scholzen. Fragen seien früher in der Familie nicht aufgekommen - oder direkt abgebügelt worden. Jetzt erinnert ein Stolperstein an Heinrich Wetzstein. "Wenn ein Name nicht genannt wird, dann ist ein Mensch tot", sagt Raimund Scholzen.

Von Trier aus fährt Demnig direkt nach Freudenburg, wo er sich ebenfalls auf Gehwegen hinknien wird, Schotter aus Vertiefungen kratzt und Steine einpasst, auf denen Namen von 24 weiteren Opfern eingraviert sind.

volksfreund.de/video

EXTRA

28 000 STOLPERSTEINE IN ZEHN LäNDERN



Als der Kölner Künstler Gunter Demnig mit seinem Stolpersteinprojekt begann, hat er nicht ahnen können, welchen Umfang es einmal haben würde. Im Jahr 1993 gab es einen ersten Entwurf, 1997 wurden die ersten in Berlin-Kreuzberg verlegt. Seitdem wurden etwa 28 000 der Messingplatten ebenerdig in Gehwege in zehn Ländern Europas eingelassen. 625 Kommunen beteiligen sich in Deutschland. Und 95 Prozent, schätzt Demnig, hat er selbst vor Ort verlegt. 2009 sei er an 300 Tagen unterwegs gewesen, sagt der 64-Jährige. Seit dem Frühjahr 2005 gibt es auch in Trier Stolpersteine. Finanziert werden sie über Patenschaften. Ein Stein kostet 95 Euro. In Trier haben schon alle 111 Gedenkstätten einen Paten gefunden. Weitere Informationen gibt es auf www.stolpersteine-trier.de im Internet. Gunter Demnigs Projekt ist unter www.stolpersteine.com zu finden. arn

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