Erinnerungen eines Elfjährigen

HAAG/TRIER. (red) Die beiden Beiträge von Heinz Josef Nisius spiegeln Sicht- und Erlebnisweisen eines damals elfjährigen Trierers, den ein gnädiges Geschick in der Endphase des Zweiten Weltkriegs vor Bombenangriffen und Tod bewahrte.

Meine Mutter und ich fieberten in Haag (heute Gemeinde Morbach, Kreis Bernkastel-Kues) dem Kriegsende entgegen. Im Zuge der Evakuierung Triers im Spätsommer 1944 hatte man uns dort bei der Witwe Margarethe Mettler einquartiert. An meinem Namenstag (19. März 1945) hackte ich Holz unter dem alten Nussbaum vorm Haus. Da wurde ich in der Konzentration auf die Finger meiner linken Hand von einem lauten metallischem Scheppern und Klirren gestört, das durchsetzt war von fauchendem Dröhnen. "Gott sei Dank, die Amis!"

Als ich erschrocken aufblickte, sah ich gerade noch einen riesigen Tank mit bedrohlich auf und ab wippendem Kanonenrohr in Richtung Hinterdorf fahren. Die Männer auf dem graugrünen Raupenungetüm trugen Uniformen und Waffen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Amis! Gott sei Dank! Meine Mutter und ich hatten zwar mit Blick auf meinen Vater die Befreiung vom Naziregime herbeigesehnt (aber das ist eine andere Geschichte), letztlich aber nisteten sich in der Erinnerung des damals elfjährigen Trierers zwei persönliche, aber höchst unpolitische Episoden dieses historischen Ereignisses ein. Bereits eine knappe Stunde nach der kampflosen Eroberung von Haag begann in dem kleinen Dorf das demokratische Informations- und Medienzeitalter: Die wohltönende Amtsglocke war von einem transportablen Druckkammerlautsprecher verdrängt worden, und aus ihm quäkte, kaum noch verständlich, die ehemals sonore Stimme vom Dorfschütz: "Wer Waffen hat, der soll sich damit vor die Haustür stellen und sie den Amerikanern abgeben." Meine Mutter hielt nichts davon, mein Lieblingsspielzeug zu verstecken, und so übergab ich denn am frühen Nachmittag mit klopfendem Herzen und Tränen in den Augen mein Luftgewehr einem jungen GI. Bevor er mir die Büchse mit breitem Grinsen zurückgab, spannte er sie mehrmals und zog den Abzugshahn, aber ohne vorher den Lauf ins Schloss zurückgesetzt zu haben. Und der Lauf schlug, getrieben von der zusammen gepressten Luft, ratschlack, mit ungezügelter Kraft ins Schloss: Das war natürlich dieser Belastung nicht gewachsen, und hin war mein Spielzeug, um das mich alle Jungen im Dorf beneideten. Doch Juppes, mein älterer Cousin, dorfbekannter Tüftler von Gottes Gnaden, der hat das Büchsenschloss wieder hingekriegt. Allerdings währte meine Freude mit dem wiedergewonnenen Luftgewehr nur kurze Zeit: Wenige Monate später verschacherte ich Juppes die Büchse. Der ungekrönte Karnickelkönig von Haag gab mir dafür zwei seiner gut gemästeten Kaninchen. Das war im Herbst 1945 für einen Hunger leidenden Stadtjungen und seine Eltern ein wahrhaft existenzsicherndes Geschäft (auch das ist eine andere Geschichte). Das zweite beherrschende Ereignis der Befreiung war für mich unsere Wirtin. Ich weiß nicht, wann sie auf die Straße gekommen war, auf jeden Fall stand sie plötzlich da, kurz nachdem der friedenschaffende Tank vorbeigerasselt war. Sie stand da? Nein, in einer solchen Situation steht "Mettlisch Gret" nicht einfach da. Frau Margarethe Mettler, vitale Witwe und geehrte Priestermutter, hatte sich am Straßenrand in Positur geworfen. Achtungsheischend schwenkte sie mit der rechten Hand ihre blau-weiß gestreifte Schürze, die sie um ihre vollschlanke Taille gebunden hatte, und mit der armesweit auf und abschwingenden linken Hand deutete sie in Richtung ihres stattlichen Misthaufens, dessen Unversehrtheit sie mit ihrer hohen, leicht brüchigen Stimme lauthals reklamierte : "Marriejuh, Marriejuh! Besichteremaol! (schau Dir das einmal an!) Meine gooude Mest! Jessäs, warren Schaare (Jesus, was für ein Schaden)!" Die linken Ketten des Tanks hatten knapp einen Meter der schwarzbraungelben Naturdün-gung abgetrennt, messerscharf. Und weit und breit keine Spur mehr von dem requirierten Wertstoff! Tränengleich tropfte "Puddel" (Gülle) aus der abrasierten Kante des sorgfältig geschichteten Misthaufens. So hat der liebe Gott der Priestermutter Margarethe Mettler im letztmöglichen Augenblick noch ein zweites Kriegsleid beschert. Das erste war ich selber, der "Stinkat unn Daifänker aus Treija". Heinz Joseph Nisius, Trier

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