Gemischte Gefühle in der alten Heimat

NEW YORK/TRIER. Heute feiert Rudi Ermann in New York seinen 89. Geburtstag. Er ist der letzte Überlebende von den sechs Kindern einer Trierer Familie, die sich vor den Judenverfolgungen der Nationalsozialisten durch die Emigration nach Übersee retten konnten.

Ihre Lebensläufe ließen sich von Trier aus nur vervollständigen Dank der Hilfe von Carol Silberfarb in New York, einer Tochter von Rudis verstorbenem Bruder Ernst. Sie übermittelte die von ihrem Onkel erzählten Erinnerungen und Fotos. Die ältesten Aufnahmen stammen aus dem Elternhaus Petrusstraße 19a. Wie gegenüber die Bäckerei Weins, gehörte es zu den ersten Häusern des gründerzeitlichen Straßenzuges. Um die Jahrhundertwende errichtete der Vater, der Pferdehändler Salomon Ermann (1870-1940), im Hinterhof eine Düngergrube und Stallanbauten für sein Fuhr- und Transportunternehmen, das der Familie bis in die 20er-Jahre ein sorgenfreies Dasein sicherte.Trier-Besuch auf Einladung von Paul Kreutzer

Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Natalie (1876-1905), mit der er bereits zwei Kinder hatte - Walter (geboren 1900, gestorben 1970 in Philadelphia im US-Staat Pennsylvania) und Martha (geboren 1903, ermordet in Auschwitz) - heiratete er 1906 seine zweite Ehefrau Rosa, die ihm weitere sechs Kinder gebar: die fünf Brüder Max (geboren 1907, gestorben 1977 in New York), Gustav (geboren 1908, gefallen 1944 in Nordafrika als US-Soldat), Ernst (geboren 1909, gestorben 1993 in New York), Fritz (geboren 1911, gestorben 1993 in New York) und Rudi (geboren 1915) sowie deren Schwester Jula (geboren 1914, gestorben 1985 in Florida). Die Ermanns repräsentierten in der Petrusstraße das Selbstbewusstsein der im sozialen und kulturellen Leben Triers voll integrierten jüdischen Bürgerschaft. Sie unterhielten daher - ungeachtet etwaiger Konfessionsunterschiede - rege Nachbarschaftskontakte. Man verabredete sich zum Kartenspielen in der Wirtschaft Pieper (Thebäerstraße); Rudi ging mit dem Bäckerssohn Philipp zur Schule; Jula pflegte Briefkontakte mit der Bäckerstochter Johanna noch Jahrzehnte nach ihrer Auswanderung. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten reduzierten sich diese Kontakte auf ein Minimum, da das Regime nach und nach die Kommunikation mit den jüdischen Mitbürgern und selbst ihre Mitwirkung in den traditionellen Sportvereinen als Strafakte verfolgen ließ, so dass mancher Nachbar sich nicht einmal mehr traute, die Familie auf der Straße zu grüßen. Unter diesen sich nach der Reichskristallnacht noch verschärfenden Ausgrenzungen entschlossen sich Jula und ihre fünf Brüder 1938/39 zur Auswanderung. Schweren Herzens mussten sie dabei ihren altersschwachen Vater Salomon, ihre Mutter Rosa und die nach Saarbrücken-Brebach verheiratete Schwester Martha mit zwei Kindern zurücklassen. Sie alle kamen - mit Ausnahme des Vaters - in Konzentrationslagern um. Angekommen in New York verpflichteten sich die Brüder Ernst, Gustav und Rudi in der US-Armee zum Kriegseinsatz gegen ihr Heimatland. Dieser Einsatz führte Rudi im März 1945 als Besatzungssoldat wieder zurück nach Trier. Mit "gemischten Gefühlen, teils Trauer wie Freude" erinnert sich Rudi heute daran, wie viele Leute ihm damals zum Willkommensgruß entgegenliefen. Wirklich freuen konnte sich Rudi damals nur über diejenigen, die seiner terrorisierten Familie bis zuletzt treue Nachbarschaftshilfe geleistet hatten, wie die Bäckerfamilie Weins, die seine Mutter noch unmittelbar vor der Deportation heimlich mit Brot versorgte; oder die Metzgerfamilie Pieper, der er vor seiner Emigration Gelder und Wertsachen anvertraut hatte. Gerne nahm er damals ihre Einladungen zu gemeinsamen Essen an. 1980 besuchte Rudi auf Einladung von Bürgermeister Paul Kreutzer seine Heimatstadt ein weiteres Mal in Begleitung seiner Ehefrau Edith und seinen Brüdern Fritz und Ernst. Der einwöchige Aufenthalt führte ihn nochmals in die Petrusstraße zur Familie Weins, von deren Bäckerei aus er einen nostalgischen Blick hinüber auf sein Elternhaus warf und beiläufig bemerkte: "It looks very good" - "Es sieht sehr schön aus".

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