Haben Sie Mitleid!

Auch, wenn Sie schlecht von mir denken. Ich hätte zu wenig Gefühl, sei herzlos und an der ganzen Misere selber schuld. Dann mögen Sie sogar Recht haben. Trotzdem, ich muss es rauslassen: Ich hasse mein Auto!

Richtig neidisch bin ich auf Kollegin Anita, die hier vor drei Tagen von ihrer warmherzigen Beziehung zu ihrem Freund, dem froschgrünen Polo, erzählt hat. Wie "ihr treuer Weggefährte" Schrammen und verzögerte Reparaturen verzeiht. Und wie lieb sein Blick sei! Bis zu dieser Vermenschlichung von rund 800 Kilogramm Metall, Kunststoff und Gummi habe ich noch nie über den Charakter eines Autos nachgedacht. Aber wenn es sowas tatsächlich geben sollte - ich will ja nicht auch noch als ignorant gelten - dann gehört mein Auto nicht zu den Gentlemen. Eher zu den ungezogenen Halbstarken. Ihm anvertraute Dinge räumt er nicht etwa ordentlich weg, sondern lässt sie lose auf der Rückbank herum fliegen. Unter den Vordersitzen kullern halbleere Wasserflaschen hin und her. Und von wegen "treuer Weggefährte"! Sobald es kälter als fünf Grad ist, will er morgens lieber zu Hause bleiben, anstatt zur Arbeit zu fahren. Bis zu zehn Minuten wehrt er sich dann, bevor er nachgibt und anspringt. Am gemeinsten aber ist, dass er den Auspuff seit kurzem lässig hängen lässt. Soll wohl cool sein. Der Meister in meiner Werkstatt sagt, abfallen könne er nicht, der Auspuff. Und eine Reparatur lohne sich nicht mehr. In drei Wochen kommt schließlich der Neue, der den ungezogenen Lümmel ersetzen wird. Ich werde ihm keine Träne nachweinen. Ich Herzlose. Falls irgendjemand Mitleid hat: Wenn in den nächsten Tagen ein silbern-rostroter Escort vor Ihnen herfährt und Sie sich über seinen hängenden Auspuff ärgern, schimpfen Sie doch einfach nicht über ihn. Er hat schließlich nicht mehr lange zu leben. Christiane Wolff In der Kolumne "Guten Morgen" beschreiben wechselnde Autoren ihre Gedanken zum Tag.

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