"Hänschen klein" - oder?

Gegen Kriegsende waren meine Mutter und wir vier Kinder evakuiert. Wir hatten das Glück, aus der Großstadt in ein Dorf im Bezirk Köln zu kommen, nämlich zu meiner Oma, wo wir - nun zu siebt mitOma, Opa, Mutter und vier Kindern - vor den Bombenangriffen in Sicherheit waren und in einem hübschen kleinen Fachwerkhaus wohnten.

Etwas eng - aber was machte das schon?! Wir Kinder: Der Älteste war fünf Jahre alt, und ich, damals vierjährig, wir schliefen mit den "beiden Kleinen", damals zwei Jahre und ein Jahr alt, in einem Bett: zwei Kinder am Kopfende, zwei am Fußende. Ins Dorf gelangten noch viele Flüchtlinge, die von der Gemeinde auf die Häuser verteilt wurden. Meine Oma sollte noch eine alte allein stehende Flüchtlingsfrau aus dem Osten aufnehmen. Dagegen wehrte sie sich: "Das Haus ist voll", verkündete sie. Es wurde ein Kompromiss angeordnet: Die alte Flüchtlingsfrau, sie hieß so ähnlich wie "Frau Burgasch" (meine Oma nannte sie aber vor uns Kindern die Frau Zuckernasch), nun, diese alte Flüchtlingsfrau sollte sich über Tage bei einem Nachbarn aufhalten, aber abends zu uns kommen und in unserem Haus schlafen. Dazu musste sie die Treppe hinaufsteigen. Oben auf dem Flur stand neben der Treppe das Bett, in dem wir vier Kinder schliefen. Als wir nun eines Abends schon im Bett lagen und "Frau Zuckernasch" nahen hörten, hatte mein Bruder eine tolle Idee: Wir ziehen uns jetzt alle die Decke über den Kopf, und wenn sie dann die Treppe hoch kommt, singen wir unter der Decke ganz laut: "Hänschen klein!" Wir hörten die alte Flüchtlingsfrau die knarrenden Holzstufen hinaufsteigen. Schwupp! Die Decke über den Kopf! Und nun sangen wir ganz laut: "Hänschen klein!" Was jetzt geschah, habe ich nie vergessen, auch wenn es 60 Jahre zurückliegt: Frau Burgasch blieb oben am Treppenabsatz stehen und fragte uns dann: "Kinder, kennt ihr nicht das Lied: Ich bete an die Macht der Liebe?" Wir waren so verdutzt, dass keiner von uns antwortete. Und dann sang die alte Frau, die Familie und Heimat verloren hatte, und die wusste, wie unwillkommen sie war, ja, sie sang innig und gesammelt das Lied: "Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart..." Vor einiger Zeit hörte ich die Don Kosaken dieses Lied singen, und sofort stand das Bild der alten Frau wieder vor meinen Augen: "Ich bete an die Macht der Liebe". Oda Erle, Trier

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