"Ich konnte nicht mehr lesen"

Während der Abwesenheit des Vaters hatten die Flaksoldaten, die an der Pfalzeler Brücke stationiert waren, seine Werkstatt in einen Wartungsbetrieb umfunktioniert. Dort war ich täglich, weniger als Hüter des elterlichen Besitzes, als vielmehr aus Neugier, denn der nahe Kontakt mit den gewaltigen Geschützen faszinierte mich. Mit den Soldaten war ich schnell befreundet, dabei erfuhren sie auch von meiner Begeisterung für gegossene Bleisoldaten.Es war für mich sehr überraschend, als dann am frühen Nachmittag des Heiligabend zwei Soldaten in die Stube traten und zunächst mit hungrigen Augen auf den duftenden Kuchen starrten, den die Mutter soeben auf den Tisch stellte. Unter ihrem Arm entdeckte ich jedoch den Pappkarton, dessen Inhalt meine stille Hoffnung erfüllen sollte, alles neu gegossene Bleisoldaten. Meine Begeisterung war riesig, doch auspacken durfte ich sie nicht, da das Christkind ja erst am Abend erwartet wurde.In diesem Augenblick trat die Großmutter mit meinen beiden Geschwistern hinzu und erinnerte uns an die Sirenen, die inzwischen schon zum zweiten Male Unheil verkündend aufgeheult hatten. Mit den Gasmasken unterm Arm eilten sie hinaus und ermahnten uns, bald nachzufolgen. Doch für ein Nachfolgen war es zu spät, denn das Brummen der nahenden Flugzeuge war zu bedrohlich, weshalb wir, Mutter und ich, aus dem Küchenfenster kletterten und im Keller des Nachbarn Schutz suchten. Es dauerte nur wenige Sekunden, und ein ohrenbetäubendes Krachen und Donnern brachte Boden und Wände zum Zittern. In diesen unerträglichen Lärm mischte sich das Schreien und Beten der Frauen und Kinder, sodass die Mutter nach Abklingen des ersten Sturmes mit mir in einen anderen Keller flüchtete. Auch dieser Raum war nur mit einer Petroleumlampe erleuchtet, aber die Decke mit dickenHolzstämmen abgestürzt und so überfüllt, dass ein Suchen nach unseren Angehörigen unmöglich war. Noch war das Brummen der Flugzeuge zu hören, als ganz unvermittelt ein furchtbares Krächzen und Poltern losbrach - aber dann absolute Dunkelheit und Totenstille.Ich spürte das Entsetzliche, riss mich los und versuchte die Treppe neben mir hochzukrabbeln, doch nach der ersten Stufe stürzten mit nur Steine entgegen. Da fand mich die Mutter und deckte mir mit einem Taschentuch Mund und Nase zu, denn der feine Staub begann schon die Atemwege zuzusetzen. In meiner Nähe versuchte jemand, ein Streichholz anzuzünden, was ihm trotz wiederholter Mühe nicht gelang - kein Sauerstoff.In dieser gespenstischen Ruhe, die nur vom Klagen und Beten durchbrochen wurde, glaubte ich Stimmen zu hören, Einbildung oder Wirklichkeit, bedeutete es unsere Rettung? Durch die straßenseitige Kellerluke des Nachbarhauses waren einige beherzte Männer eingestiegen, brachen eine kleine Öffnung in die Zwischenwand zu unserem Keller, durch die sie uns dann einzeln herausziehen konnten.Ich war draußen, atmete wieder frische Luft und sah das Furchtbare; das große Haus - nur noch ein Trümmerhaufen. Dann war auch die Mutter gerettet. Wir stolperten über Geröllhaufen zur Wohnung - leer. Da lag alles unter einer Staubdecke, und Glassplitter bedeckten Tisch und Boden, auch meine geliebten Bleisoldaten. Nach langem Suchen fanden wir unsere Lieben. Stündlich wurden neue Tote beklagt, unschuldige Menschen, die aus ihren Kellern nicht mehr gerettet werden konnten. Es wurde uns immer bewusster, welch glücklichem Umstand wir unser zweites Leben zu verdanken hatten.Erst Tage später merkte ich, dass mir das vertraute Lesebuch und alle Buchstaben fremd geworden waren. Ich konnte nicht mehr lesen und schreiben. Vieles war aus meinem Gedächtnis ausgelöscht. Es dauerte lange, bis ich diesen Verlust wieder wett machen konnte.Adolph Steines, Trier

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