Johannes, der kleine Stern

Am unendlichen großen Sternenzelt weilte Johannes, ein kleiner Stern, dem kaum jemand Beachtung schenkte. Er wirkte fast unscheinbar, da die großen, erhabenen Sterne ihn zum Teil verdeckten.

"Ach", seufzte Johannes vor sich hin: "Wozu bin ich überhaupt da? Die großen, prächtigen Sterne verdrängen mich überall, sodass ich von der Erde aus überhaupt nicht wahrgenommen werden kann."
Eines Tages begab er sich zum Lieben Gott und beschwerte sich: "Warum hast Du mich erschaffen? Die Sonne, der Mond und die unzähligen Sterne sind herrlich und prachtvoll." - "Nun, mein kleiner Stern", tröstete ihn der Liebe Gott, "ich habe Dich schon mit Überlegung geschaffen. Sei nicht ungeduldig, Du wirst ganz gewiss erfahren, wie nützlich Du als kleiner Stern sein wirst."
Johannes wartete und wartete, Jahr um Jahr. Nichts tat sich. Nach wie vor wurde er von den anderen Sternen beiseite geschubst und durfte nicht ein einziges Mal hinunter auf die Erde schauen. Er war seines Daseins leid.
Einmal, es war zur Weihnachtszeit, nahm er allen seinen Mut zusammen, den er besaß, und schlüpfte zwischen den großen, prächtig strahlenden Sternen bis ganz nach vorne hin in die erste Reihe.
Ein fürchterliches Geschrei


Als die vornehmen Sterne Johannes erblickten, gab es ein fürchterliches Geschrei: "Du Kleiner, was willst Du hier vorne? Hier hast Du nichts zu suchen, das sind unsere Plätze." Und wieder schubsten sie ihn aus einer Ecke in die andere. Johannes weinte. Er hatte einfach keine Chance.
Von diesem entsetzlichen Geschrei war die Sternen-Großmutter von ihrem Mittagsschlaf erwacht. "Was ist das für ein Lärm hier?", schimpfte sie. "Kann man denn nicht einmal in Ruhe ein halbes Stündchen ein Schläfchen halten? Schämt Euch, es ist eine Schande, wie Ihr Euch benehmt!"
Während Großmutter einen jeden auf seinen Platz verwies, konnte Theodor, das war Großmutters Schwiegersohn, es nicht unterlassen, dem kleinen Johannes noch schnell einen Tritt zu geben, sodass dieser das Gleichgewicht verlor und vom Sternenzelt stürzte. Er schrie und schrie, doch niemand hörte ihn. Er war seinem Schicksal ausgeliefert. Seine Angst war unbeschreiblich. Er schwebte im All, weit, weit vom Sternenzelt entfernt, und wusste nicht, was ihn erwartete.
Als es Abend wurde und Großmutter nach ihrer Sternenschar schauen wollte, ob jeder nun an seinem Platz sei, bemerkte sie, dass Johannes\' Platz leer war. "Hat jemand Johannes gesehen?", erkundigte sie sich. Niemand wollte etwas wissen. Dabei fiel ihr auf, dass Theodor ganz rote Ohren bekam, was jedes Mal ahnen ließ, dass er kein gutes Gewissen hatte.
Großmutter nahm ihren Schwiegersohn bei seinen roten Ohren und zog so lange daran, bis er Farbe bekannte. "Mein Gott!", stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus. "Wie konntest Du nur den Kleinen so ins Ungewisse stürzen? Mach, dass Du hinunterkommst, und such Johannes. Und komm mir ja nicht ohne ihn zurück!" Beschämt machte sich Theodor auf den Weg, um Johannes zu suchen. Die Zeit verging - kein Theodor, kein Johannes. Großmutter machte sich ernsthaft Sorgen. Denn schließlich war sie ja verantwortlich für die ganze Sternenfamilie. Sie schüttelte den Kopf - so etwas war noch nie vorgekommen.
Der liebe Gott auf Visite


Von Zeit zu Zeit machte der Liebe Gott eine Visite durch das Sternenzelt, um zu schauen, ob da alles in Ordnung sei, denn Großmutter war ja auch nicht mehr gerade die Jüngste. Dabei war ihm sofort aufgefallen, dass Johannes nicht anwesend war. Er erkundigte sich sofort bei der Großmutter, warum Johannes nicht an seinem Platz sei und Theodor nicht zu finden sei. Großmutter ließ zwei Stühle holen - einen für den Lieben Gott und einen für sich selbst. Schweren Herzens erzählte sie, wie Theodor so sündhaft gemein Klein-Johannes gegenüber gewesen sei und ihn vom Sternenzelt gestoßen habe. Der Liebe Gott beruhigte die Großmutter: "Mach Dir mal keine Sorgen, für Johannes ist die Stunde gekommen, in der sich alles zum Guten wenden wird. Ich werde meinen kleinen Stern beschützen bei Tag und Nacht."
Während Johannes ganz weit irgendwo in der Ferne schwebte, glaubte er etwas wahrzunehmen, das er nicht kannte, und wurde vom Wind dort hingetrieben. Ja, da war eine Hütte, ganz armselig und dunkel. In der kleinen Hütte war keine Tür. Ängstlich warf er einen Blick hinein. "Oh Gott!", stieß er einen Schrei des Entsetzens aus. In der Dunkelheit und Kälte sah er ein neugeborenes Kindlein in einer Krippe liegen. Zögernd trat er näher, und im Nu war die Hütte wunderbar hell erleuchtet und wohltuend erwärmt. Dabei strahlten die Augen des Kindleins so viel Liebe und Dankbarkeit aus, dass Johannes seine Blicke nicht mehr von ihm abwenden konnte.
Indessen war Theodor immer noch auf der Suche nach Johannes. Großmutter hatte einen langen goldenen Schweif an ihm befestigt, damit sie immer im Bilde war, wo er sich gerade befand. Mitten in der Nacht alarmierte sie den Lieben Gott und verkündete ihm, dass Theodor mit seinem Schweif sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr von der Stelle bewegt habe. Der Liebe Gott nahm die besorgte Großmutter in den Arm und erklärte ihr: "Das ist ein großes Geheimnis. Dort, wo Theodor mit seinem Schweif weilt, befindet sich eine armselige Hütte, in welcher ich zum Heil der ganzen Welt als kleines Kind geboren wurde, und Klein-Johannes darf sich freuen, an meiner Krippe mir ganz nahe zu sein und als Lichtlein in die dunkle Welt zu leuchten.

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