Kunst zum Anfassen

Trier · Stahlskulpteur Andreas Hamachers Werkreihe Haptikons richtet sich nicht nur an die Augen, sondern auch an den Tastsinn. Bei seiner Ausstellung in der Trierer Galerie KM9 hat er eine Führung speziell für Sehbehinderte angeboten. Die seltene Möglichkeit der Kunstbetrachtung kam gut an.

Hildegard Mainusch (links) und Marianne Jäger tauschen sich über ein Haptikon, ein Kunstwerk zum Anfassen, aus. TV-Foto: Julia Schäbsdau

Hildegard Mainusch (links) und Marianne Jäger tauschen sich über ein Haptikon, ein Kunstwerk zum Anfassen, aus. TV-Foto: Julia Schäbsdau

Foto: (h_st )

Trier. Eine Besucherin fährt mit ihren Händen über das Material eines der Exponate, über jede Rundung und jede Kante, in jeden Hohlraum der Stahlskulptur. "Das sieht aus wie ein kaputtes Segelboot", resümiert sie. Zwei fröhlich lachende Damen versuchen, eine der Skulpturen von ihrem Podest zu heben und stellen fest: "Ganz schön schwer."
Was die meisten Museen und Galerien verbieten, ist in der Ausstellung der Stahlskulpturen Haptikons erwünscht. Denn Künstler Andreas Hamacher macht Kunst zum Anfassen. Die Galerie KM9, in der er seine Werkreihe diesen Sommer drei Wochen lang ausstellt, ist am vorletzten Abend speziell für Blinde und Sehbehinderte geöffnet. Sie alle sind Mitglieder des Vereins Pro Retina Deutschland, einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Netzhautdegenerationen.
Angeregt diskutieren die Besucher über die Skulpturen: "Jeder interpretiert sie anders", stellt Marion Palm-Stalp fest. Was die eine an eine Muschel erinnert, lässt die andere an einen Pelikanschnabel denken. Dass sich solche individuellen Assoziationen frei und unvoreingenommen entfalten können, ist ein Anliegen Hamachers. Aus diesem Grund verzichtet er auch darauf, seinen Haptikons Namen oder Titel zu geben.
Bärbel Rohse hat der Ausstellungstitel Haptikons gleich neugierig gemacht. Der setze sich schließlich zusammen aus "Haptik", der Lehre vom Tastsinn, und "ikon", was auf die griechische Bedeutung für "Bild" zurückgehe. Die von Geburt an blinde Frau hat sich vor ihrem Besuch im KM9 gefragt, ob Hamachers Kunstwerke wohl ihrer Bezeichnung gerecht werden. Ihr Fazit: "Er meint den Begriff ernst!" Rohse freut sich über die Möglichkeiten, die Sehbehinderten oft verwehrt blieben. Durch die herkömmliche Art, sich mit Kunst auseinanderzusetzen, sei ein Umgang damit für Blinde und Sehbehinderte nicht möglich. "Die Beschäftigung mit Kunst hat eine ganz andere Qualität, wenn man die Augen zumacht und sich auf das Tasten konzentriert", findet Marianne Jäger. Die ehemalige Kunstgewerbe-Schülerin leidet wie Hildegard Mainusch an einer Makuladegeneration (eine Netzhauterkrankung). Mainusch kann dem Gespür, das sie durch die Krankheit entwickelt, etwas Positives abgewinnen: Ihre Möglichkeiten der Sinneswahrnehmung seien durch den gut geschulten Tastsinn erweitert. Sie hat die Fähigkeit, Schönes zu erkennen, nicht mit ihrer Sehkraft verloren.
Die Idee zur Führung stamme von der Museumspädagogin An- d rea Orth, erzählt Künstler Hamacher. An seiner Arbeit mit Stahl fasziniert den Bildhauer die Freiheit, die dieses Material ihm lasse: Die Oberfläche verändere sich je nachdem, wie der Stahl bearbeitet worden sei, sie fühle sich mal rau, mal glatt an. Sogar verschiedene Farben könne der Stahl annehmen. Je nach Hitzegrad bei der Herstellung entstünden durch chemisch-phsysikalische Prozesse Tönungen von Gold bis Blau.
Was den Abend für die Sehbehinderten so besonders macht, geht über die Kunst hinaus. "Es ist toll, zusammen mit dem Künstler anfassen zu dürfen", sagt Bärbel Rohse. "Denn das setzt voraus, dass es keine Berührungsängste gibt." Diese existierten gegenüber Blinden und Sehbehinderten oft, bedauert auch Marion Palm-Stalp. "Dabei gehören behinderte Menschen in unserem bunten Leben dazu." Wenn sie sich etwas wünschen dürfe, "wäre es, häufiger von Künstlern oder Betrieben eingeladen zu werden und mit unserem Tastsinn auf andere Art erfahren zu dürfen."
Extra

Andreas Hamacher, 1967 in Trier geboren, hat von 1994 bis 2013 an der Europäischen Kunstakademie Trier studiert und macht seit seinem 20. Lebensjahr Skulpturen aus Stahl. Sein Material findet Hamacher auf dem Schrottplatz. Die Skulpturen werden erst in einem Kleinformat verwirklicht, um dann in ein mittleres und eventuell ein Großformat übernommen zu werden. Dadurch, dass sie alle unterschiedlich bearbeitet werden, entwickeln sich verschiedene Oberflächenstrukturen und Tönungen. red

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