Liebesschwüre mit Gänsehaut-Faktor

TRIER. Gegensätze ziehen sich an. Am Samstagabend war es nicht nur das Wetter, welches nicht wirklich zum angekündigten "Italienischen Abend" passen wollte. Auch der Mann auf der Bühne vereinbart in sich Widersprüche, die er als Profi jedoch nur selten erkennen lässt. Mit Pianist Christoph Jung harmonierte Tenor Thomas Kiessling derart perfekt, dass er sein Publikum zu "Bravo"-Rufen hinriss.

Die Geräuschkulisse im Telekom-Innenhof wird zu Beginn des italienischen Abends von den Zuschauern bestimmt. Kaum begibt sich Thomas Kiessling in Richtung Bühne, beginnt das große Stühlerücken auf der Terrasse. Schließlich will man den bestmöglichen Blick auf den beliebten Trierer erhaschen. Seine Erkältung merkt man ihm nicht an

Genuss trifft das, was das Musikduo zubereitet, genau. Sattelfest sitzt Christoph Jung auf seinem Klavierschemel und ebenso präsentiert der Trierer Tenor seine Canzones. Mit seinen italienischen Liedern bewegt er sich auf sicherem Terrain, erliegt aber nicht der Gefahr der Routine. Er lebt seine Lieder - akustisch und mimisch. Als typisch Thomas Kiessling erweist sich die mal keck, mal dramatisch nach oben gezogene Augenbraue. Die Vorbereitung auf die folgende Passage betreibt er voller Ernsthaftigkeit: Mit Mafiosi-Blick studiert er sein Notenblatt. Dass er erkältet ist, merkt man seiner musikalischen Darbietung nicht an. Lediglich während der Pausen vernimmt man leichtes Hüsteln. Doch Kiessling ist viel zu sehr Profi, um sich von Bakterien oder Viren schachmatt setzen zu lassen. Spätestens seit 1998, als er als einer der drei jungen Tenöre die Unbarmherzigkeit der Karrieremaschinerie kennen lernte, ist er schmerzfrei. Aber er weiß auch, wann es Zeit ist zu gehen. Er verließ das erfolgreiche Trio und kehrte nach Trier zurück. "Er wollte jetzt mal wieder nach Hause", erzählt Angelika Schikorski, die den Kiessling-Fanklub leitet. Die Westerwälderin engagiert sich seit acht Jahren aus Berufung. Ihr Beruf hat mit Musik rein gar nichts zu tun: Sie ist Hundetrainerin. Dabei ergab sich der erste Kontakt mit Kiessling zufällig: Im Theater Trier schlüpfte sie nach der Vorstellung hinter die Bühne, wo sie über einen Absatz stolperte und filmreif in Kiesslings Arme segelte. Nicht ganz im Sinne von Hollywood hat sich ihr Verhältnis entwickelt: "Daraus ist mittlerweile wirklich eine dicke Freundschaft entstanden", erzählt sie stolz. Da schrecken sie auch die 200 Autobahn-Kilometer nicht ab, um ihren Freund auf der Bühne bewundern zu können."Thomas liebt dramatische Lieder"

Und der Weg erweist sich als lohnenswert. Das Paket, das er für diesen Abend geschnürt hat, bietet ein breites Spektrum italienischer Spielarten: luftig leichte Melodien, die kurzzeitig die aufgestellten Heizstrahler vergessen lassen, leidenschaftliche Liebesschwüre, die Gänsehaut bescheren, Tempiwechsel, die mit kraftvollem Stimmvolumen "la liberta" (die Freiheit) lobpreisen oder auch leicht dissonante Klänge, die interessante Spannungen erzeugen und in Moll-Versionen Melancholie transportieren. "Thomas liebt die dramatischen Lieder ganz besonders", schmunzelt Angelika. Und das Publikum liebt ihn. Jeder neue Aufzug wird mit Applaus, das Repertoire schließlich mit Bravo-Rufen quittiert. Thomas Kiesslings Reaktion ist bescheiden, beinahe schüchtern. Einmal entfährt ihm ein "Danke", das nur dank des Mikrofons seinen Weg zu den Zuschauern findet. Dabei ist seine Bühnenpräsenz einfach überwältigend. Schlüpft er in seine Rollen, ist jegliche Schüchternheit verflogen. Thomas Kiessling strahlt im Scheinwerferlicht und lebt seine Lieder.

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