Geschichte In 220 Seiten durch die wilde Aufbauzeit

Trier-Pfalzel · Von wegen Wirtschaftswunderjahre: Rainer Ludwig, Urgestein der Kreisverwaltung, hat ein neues Buch veröffentlicht. Thema ist seine Kindheit in Pfalzel.

 „Eine meiner Lieblingsecken in Pfalzel“: Rainer Ludwig mit neuem Buch im Garten an der Stiftskirche.

„Eine meiner Lieblingsecken in Pfalzel“: Rainer Ludwig mit neuem Buch im Garten an der Stiftskirche.

Foto: Roland Morgen

Rainer Ludwig hat einen triftigen Grund, Bücher zu schreiben: „Wenn ich es nicht tue, geht zu viel an Erinnerungen verloren. Es geht ohnehin viel zu viel unter. Deshalb liegt mir viel daran, Dinge noch einmal an die Oberfläche zu ziehen.“

Diesmal die Erinnerungen an seine Kindheit in Pfalzel, eine Kindheit der Nachkriegsgeneration. Beginnend mit der familiären Herkunft, dem Elternhaus im Ehranger Weg (der seit der Eingemeindung 1969 Eltzstraße heißt) und seinem 1948 aus französischer  Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vater. Ludwig schildert die bescheidenen Lebensverhältnisse und Ereignisse in der Zeit des demokratischen Neubeginns, ohne den Leser ins verklärende Licht der Vergangenheit zu setzen.

Der heute 72-Jährige verrät viel Persönliches. Er nimmt den Leser mit auf Spaziergänge durch Pfalzel, das sich als typisches Moseldorf zeigt. Mit noch zahlreichen Geschäften und Gaststätten, vor allem selbständige Handwerkern und Gewerbetreibenden, allen voran Bäcker und Metzger, aber auch Schneider, Schreiner, Maler, Frisöre, Schuster oder Reparaturwerkstätten. Und es gab zwei „Lichtspielhäuser“ (Kinos): das Palenzia und das Gloria.

Der Autor beschreibt das historische Stifts- und Burgviertel mit seinen verwunschenen Gassen und Winkeln („meine Lieblingsecken“), er schaut auf stattliche Bauernhöfe, die später Opfer des Strukturwandels werden. Er berichtet heitere und ernste Erlebnisse aus Kindergarten und Volksschule, betont den Stellenwert des vielfältigen kirchlichen Lebens für die soziale Schutzfunktion der Gemeinschaft.

Der Sport – in Pfalzel vom Feldhandball an der Wallmauer bestimmt – erfährt Würdigung aus kindlicher Anschauung, wenn auch das Wunder von Bern 1954 den Fußball betrifft und das erstarkte deutsche Selbstwertgefühl 1958 in Göteborg gedämpft wird: 1:3 im WM-Halbfinale gegen Schweden.

Die Erzählungen sind mit dem politischen und gesellschaftlichen Geschehen in der jungen Bundesrepublik verwoben. Vom Wirtschaftswunderland ist die Rede. Doch das im Heimatort lange getrübte Stimmungsbild bringt Ludwig nicht zum Überschwang: „Genügsamkeit und Geduld waren nötig, Instandsetzung dringlicher als Modernisierung. ,Made in Germany’ passte nicht zu den unzureichenden Wohnverhältnissen und dem Leben kinderreicher Familien am Rande des Existenzminimums. Die Verankerung in der westlichen Wertegemeinschaft wurde überschattet von der Sorge um Sicherheit und Frieden, wegen der ständigen Drohungen aus dem Osten.“

Dazu Affären der Bonner Politik (vor allem die um den damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß) und spektakuläre Reportagen aus den Illustrierten im Frisörsalon, die die Gemüter erhitzten. Der Mordprozess gegen Vera Brühne. Die Faszination der ersten Fernsehbilder, die in die Stuben lockten und das Plaudern der Leute auf der Bank vor dem Haus beendeten.

Schließlich die Moselkanalisierung, Hafenbau, Erschließung neuer Wohngebiete und Industrieansiedlung. Das Dorf wird Teil einer neuen Großstadt werden, die Fluren verwandeln sich.

Eine rasante Entwicklung im Zeitraffer. Rainer Ludwig beschreibt die Atmosphäre und Befindlichkeit der wilden Aufbaujahre. Seine Kindheitserinnerungen enden 1963 mit der Entlassung aus der Volksschule am 29. März und dem Beginn der Verwaltungslehre am 1. April beim Landratsamt in der Trierer Mustorstraße.

Die 220 Seiten umfassende Memoiren-Sammlung ist erfrischend kurzweilig und mit viel Esprit  verfasst. Zudem eine Fundgrube an Informationen – nicht nur für alte Pfalzeler und junge Menschen, die Ludwig ebenfalls ansprechen will: „Für sie spiegeln meine Erzählungen das Bild einer vergessenen, untergegangenen Welt wider. Die Reihen derer, die die beschriebene Zeit noch bewusst miterlebt haben, sind lichter geworden.“

Die legendären Pfalzeler Boote kommen selbstverständlich auch zu Ehren – als hübsches Postkartenmotiv von 1960 auf dem Einband.

Das Buch „Meine Kindheit in Pfalzel. Die Aufbauzeit der fünfziger Jahre“ von Rainer Ludwig kostet 14 Euro; Bestellung per E-Mail: Ludwig-Kordel@t-online.de

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