Mit Stubbi und Schnaps zur heiligen Maria

Eigentlich war ich nur mitgefahren, weil ich mich darauf freute, Trier, die älteste Stadt Deutschlands, wiederzusehen. Ich war natürlich auch gespannt, was es mit diesem Mariathlon auf sich hatte.

 Mariathlon: Eine volle Stubbikiste wird von einem Zweierteam so schnell es geht zur Mariensäule getragen. Am Ziel hoch über der Stadt angekommen, sollte die Kiste leer sein, wenn das Team keine Strafminuten riskieren will. TV-Foto: Friedemann Vetter

Mariathlon: Eine volle Stubbikiste wird von einem Zweierteam so schnell es geht zur Mariensäule getragen. Am Ziel hoch über der Stadt angekommen, sollte die Kiste leer sein, wenn das Team keine Strafminuten riskieren will. TV-Foto: Friedemann Vetter

Und in den zwei darauffolgenden Wochen wurde der Mariathlon immer wieder angesprochen - dabei wurden Jahreszahlen erwähnt und Namen von Siegern, darunter auch die von Gabriel und Mike, 1987, und es wurde ernsthaft darüber diskutiert, in welchem Jahr die Konkurrenz am schwierigsten gewesen sei und dass es heutzutage keine echten Champions mehr gab.
Auf dem Weg von der Römerbrücke zur Mariensäule auf dem Markusberg, so versprach mir Gabriel, würden die Straßenränder ähnlich von begeisterten Zuschauermassen gesäumt sein wie die Bergpässe bei der Tour de France. Das war zwar übertrieben, wie sich herausstellen sollte, aber dennoch beeindruckte mich, dass die Teams Fanclubs mitbrachten, die die Mannschaften den kompletten Weg bis hinauf zur Mariensäule begleiteten. Man ging einfach neben oder hinter den Teams her und feuerte das eigene an; die anderen Teams mit Schmährufen zu verunsichern war verpönt, es handelte sich um einen ehrenvollen Wettkampf.
Durch dieses Mitpilgern mit den Teams entstand subjektiv übrigens tatsächlich der Eindruck, als ob man sich durch eine Menschenmasse kämpfte beim Aufstieg nach L\'Alpe d\'Huez, nur dass die Menschenmasse aus ein paar Dutzend Kumpels und Angehörigen bestand, die durch das Mit-dem-Wettbewerb-Mitbewegen den aktuellen Zwischenstand optimal mitverfolgen konnten.
Unser Fanclub bestand aus mir, Rolf und Andi, Matti, den nostalgische Gründe antrieben - er hatte Ende der Achtziger selbst zweimal teilgenommen -, Lissie und Nicole, die hofften, Andi und Rolf näher zu kommen, und Speedy, der gerade einen uralten Ford Transit billig von der freiwilligen Feuerwehr übernommen und wieder fahrtüchtig gebastelt hatte. Dieser Neunsitzer war eigentlich schon tot gewesen - so hatte Speedy es pathetisch formuliert -, aber er hatte ihn reanimiert und nur auf einen gebührenden Anlass gewartet ... Wir kamen in dem rot-weiß lackierten Oldtimer-Minibus also zu neunt an, wobei sich auf der Römerbrücke noch drei weitere Primstaler zu uns gesellten, allesamt Jungspunde, Studenten.
Zum Glück übernahm Matti es, den drei Studenten und mir die Regeln zu erläutern. Bisher hatte ich aus den anderen noch keine Details über den Mariathlon herausbekommen können, außer eben, dass es sich um eine der härtesten Vielseitigkeitsprüfungen handelte, die der regionale Traditionssport zu bieten hatte. Matti gab, mit dem Pathos eines Veteranen, einen kurzen historischen Abriss und schwärmte ausgiebig über seine eigenen beiden Teilnahmen. Mit sentimentaler Stimme erzählte er, dass ihm dabei leider ein nennenswerter Erfolg versagt geblieben war, weil er sich bei seiner ersten Teilnahme selbst eine Verletzung zuzog, und dass es beim zweiten Mal seinen Teamgefährten erwischte. Matti betonte, es habe sich damals ausschließlich um echte Wettkampfverletzungen gehandelt, die ihn aus dem Rennen warfen, und er war, bitteschön, immerhin zweimal mit dabei gewesen, in jenen glorreichen Achtzigern, als man nicht nur locker zwei Dutzend erstklassige Teams an den Start bekam, sondern sogar lokale Qualifikationswettbewerbe durchführte.
Die Strecke, das war von der Römerbrücke, und zwar von der Altstadtseite aus, über die Mosel, durch Pallien und dann den extrem steilen Markusberg hoch bis zur Mariensäule. Matti deutete auf eine steile Wand, einen größtenteils bewaldeten Sandsteinfelsen von schätzungsweise hundert Metern Höhe, auf dem oben eine gut vierzig Meter hohe Säule stand. Mit einer Figur darauf. Trotz der Entfernung hätte ich auch ohne den erklärenden Namen von alleine vermutet, dass es sich um die heilige Mutter Gottes handelte.
Um den Parcours zu meistern, so machte uns Matti klar, bedurfte es vor allem folgender Fähigkeiten: Ausdauer, Trinkfestigkeit, taktisches Geschick und Teamgeist.
Es waren knapp zwanzig Teams am Start. Jedes Team bestand aus zwei Personen, wobei es keinerlei Alters-, Herkunfts- oder Geschlechtsvorgaben gab. Bis auf ein einziges Frauenteam traten allerdings nur Männer an. Sogar zwei Austauschstudenten aus Irland bildeten ein Team und gaben dem Wettbewerb einen Hauch von internationalem Glanz. Andi und Rolf erklärten die beiden Iren kurzerhand zu ihrem zweitliebsten Team und feuerten auch die beiden Austauschstudenten zwischendurch ein wenig an, weil Exoten bei so einem Wettbewerb ein wenig Unterstützung verdienten. Matti bestätigte meine Vermutung, dass die meisten Teams aus Studenten bestanden, aber es waren auch ein paar eindeutig ältere Typen dabei, wobei unser Primstaler Team, also Gabriel und Mike, eindeutig zu den Altgedienten gehörte, wenn nicht gar das älteste war. Vielleicht erklärte das auch, dass der Organisator und Oberschiedsrichter, ein sympathischer Typ namens Carsten, der so um die dreißig war, Gabriel und Mike mit Handschlag begrüßte. In den letzten Jahren hatte Carsten einige Mühe gehabt, Teilnehmer zu finden, da es immer wieder Schwierigkeiten mit der Polizei gegeben hatte. Deshalb waren aus den letzten zwölf Jahren alle Siegerteams eingeladen worden. Allerdings waren außer Mike und Gabriel nur noch zwei Jungs aus der Südeifel so verrückt, es noch einmal zu probieren. Carsten begrüßte auch das Team aus der Eifel per Handschlag. Matti erzählte, dass die beiden Typen zwei Jahre nach Gabriel und Mike das Rennen gewonnen hatten. Bevor Carsten die Mannschaften endlich auf die Strecke schickte, überprüfte er den ordnungsgemäßen Zustand der Wettkampfgeräte. Denn entscheidend beim Mariathlon war, dass jedes Team einen bestimmten Gegenstand hinauf zur Mariensäule brachte, und zwar einen Kasten Bier. Genauer gesagt handelte es sich um einen Kasten Stubbis, wobei nur Flaschen der Marke Bitburger oder Ur-Pils erlaubt waren; letztere Biermarke war ein Zugeständnis an die saarländischen Teilnehmer, die bei diesem Wettbewerb traditionell eine prägende Rolle gespielt und bis zu diesem Rennen genau die Hälfte aller Siege davongetragen hatten - darüber wurde exakt Buch geführt, so wie beim Bootsrennen zwischen Oxford und Cambridge. Es gab sogar ein gemischtes saarländisch-pfälzisches Team, bei dem die linke Hälfte des Kastens mit Bitburger, die rechte mit Ur-Pils gefüllt war. Außerdem mussten noch zwölf Minifläschchen (0,02-Liter) Schnaps mit in den Kasten gestellt werden. Welcher Schnaps drin war, war egal; als einzige Grundregel galt, dass das Zeug mindestens 20 Prozent Alkohol haben musste. Carsten kontrollierte das vor Rennbeginn. Die Fläschchen wurden genau auf die zwölf Schnittpunkte im Kasten gestellt, die sich zwischen jeweils vier Stubbiflaschen befanden, so dass das Ganze ein so harmonisch-symmetrisches Bild abgab wie eine perfekte, kleine Renaissancefassade.
Die Klügeren, Erfahrenen unter den Wettbewerbern ließen sich auf nichts ein und stellten zwölf Minifläschchen Klaren - Korn oder Obstler - in den Kasten. Der hatte zwar mehr Prozent als das klebrige Likörzeug, für das sich einige entschieden hatten, vertrug sich aber besser mit dem Bier und kotzte sich notfalls leichter. Erbrechen während des Wettbewerbs war nämlich erlaubt und zog keinerlei Zeitstrafen nach sich, wenn dabei das Wettkampfgerät nicht den Boden berührte.
Jedes Team musste seinen Kasten den ganzen Weg gemeinsam tragen. Also hatte jeder die Hand an einer Seite des Bierkastens, der stets zwischen den beiden Mannschaftskameraden etwa siebzig Zentimeter über der Erde schwebte. Hand- und Seitenwechsel waren erlaubt. Im Notfall durfte das Wettkampfgerät kurzfristig von nur einem Teamgefährten gehalten werden, wenn sich der andere zwischendurch zum Beispiel schnäuzen musste, oder pinkeln, was bei dem Flüssigkeitsumsatz natürlich nicht ausblieb. Aber solange der Kasten von einem allein gehalten wurde, war jegliche Vorwärtsbewegung untersagt. Und das war nicht unbedeutend - immerhin stand am Ende des Wettbewerbs eine Laufzeit als Resultat fest, denn im Ziel wurde die Zeit gestoppt, und für nicht getrunkene Flaschen gab es Strafminuten: Jede noch volle Bierflasche brachte drei Strafminuten, jeder nicht leer getrunkene Schnaps fünf Minuten. Laut Reglement musste man also nicht alles leer trinken, allerdings hatte man dann fast keine Chance zu gewinnen, denn bei einer durchschnittlichen Streckenbewältigungsdauer von gut anderthalb Stunden gab es nur Zeitunterschiede von höchstens fünfzehn Minuten, das heißt bei den Teams, die es überhaupt schafften. Bei nur einem nicht getrunkenen Bier und einem Schnaps mussten also schon satte acht Minuten auf der Strecke herausgeholt werden, was selbst für ausdauernde Kampftrinker schwierig war. Ließ man noch eine zweite Flasche Bier oder einen weiteren Schnaps ungetrunken, war man mit über zehn Strafminuten für einen Spitzenplatz praktisch schon aus dem Rennen.
Während Matti weitererklärte, gingen die Teams in Grundstellung, reihten sich alle hintereinander auf dem Bürgersteig auf, der entlang der vielbefahrenen Straße über die Römerbrücke führte, wobei nur die Novizen unter den Teams darum rangelten, einen der vorderen Plätze zu bekommen. Die alten Hasen wussten, dass in der Anfangsphase ein paar Meter mehr oder weniger egal waren. "Der Rest erklärt sich von selbst. Ihr werdet sehen!", meinte Matti aufgeregt. Und ich konnte mir nicht vorstellen, was an diesem Rennsaufen - oder Saufrennen? - unterhaltsam sein sollte.
Der Wettbewerb wurde gestartet, indem Carsten mit dem offensichtlich traditionellen Startruf "Schluck auf!" den Tross der Bierkastenteams in Bewegung setzte.
Die Grünschnäbel, darunter die Iren, die sich auf die ersten Startpositionen gedrängelt hatten, gingen so forsch los, dass sie fast schon in einen leichten Laufschritt verfielen, während die hinteren, darunter auch Mike und Gabriel und die beiden Eifeler zunächst einmal stehen blieben und sich jeder eine Flasche Bier öffneten. Unsere beiden Mariathleten öffneten ihre Stubbis, indem der eine Teamgefährte den Kronkorken mit dem gezackten Rand fest an die obere Kante des Bierkastens drückte und der andere mit der geballten Faust von oben so gekonnt auf den Bierdeckel schlug, dass dieser klimpernd auf den Asphalt fiel und der Mannschaftskamerad eine geöffnete Flasche in der Hand hielt. Diese Technik ermöglichte es, in der Bewegung, also während des Gehens, Bierflaschen zu öffnen. Mike und Gabriel gingen aber selbst dann noch nicht los, als die ersten beiden Flaschen offen waren, sondern jeder trank sein Stubbi in einem Zug halb leer, dann stellten sie die halbleeren Flaschen zurück in den Kasten, Mike nahm zwei der Schnapsfläschchen in die freie Hand, die Gabriel dann mit seiner freien Hand aufschraubte. Dann schüttete Mike den Inhalt der Fläschchen in die beiden geöffneten Stubbis und wiederholte diese Prozedur mit zwei weiteren Schnapsfläschchen. Dann erst schlenderten die beiden los, während sie in kräftigen Schlucken die mit Schnaps aufgefüllten Stubbis tranken. Die ersten aus dem Mariathlon-Pulk waren bereits am anderen Ende der Brücke, als unser Team endlich losschlenderte. Aber wir hatten als Einzige schon zwei Stubbis und vier Schnäpse erledigt, bevor wir überhaupt die Mosel überquerten. Virtuell lagen wir also mit über zwanzig Minuten vor dem Feld, mit Ausnahme des Eifelteams, das die gleiche Eröffnungsvariante gewählt hatte. Als wir am Ende der Brücke ankamen, öffneten sowohl die Eifeler als auch unsere Jungs die zweite Runde Stubbis. Wir bildeten immer noch das Ende der Prozession. Aber als ich nach vorne blickte, sah ich, wie einige der Jungspunde stehen blieben und umständlich den Kasten gegenseitig festhalten mussten, um die Flaschen zu öffnen. Nur die wenigsten trauten sich, soweit ich das erkennen konnte, hier schon an die Schnäpse heran, sondern tranken erst einmal das Bier. Diese Taktik hätte ich, glaube ich, genauso gewählt, denn ich hätte Manschetten vor den Schnäpsen gehabt. Aber Mike und Gabriel öffneten, kaum dass sie über die Brücke geschlendert waren, die nächsten beiden Schnapsfläschchen und gossen sie sich in die zweite Runde Stubbis. Die Eifeler taten das gleiche.
Einige der ganz Eifrigen waren schon längst nach rechts in der Aachener Straße verschwunden. Alle hatten bis dahin schon mindestens zweimal zwei Stubbis getrunken, aber unser Team hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine halbe Stunde Vorsprung in Schnaps herausgeholt - abzüglich der ein bis zwei Minuten, die es der Prozession gemächlich hinterhertrottete. Dennoch zweifelte ich daran, ob das die richtige Taktik war, als mein Blick hinauf zur Mariensäule schweifte, die hoch über der Mosel drohte.
Während des ganzen Weges liefen Carsten und ein paar Hilfsschiedsrichter immer wieder hin und her, um nachzusehen, ob auch alles fair zuging. Eigentlich gingen alle davon aus, dass niemand schummelte. Aber Anfang der Neunziger hatte es einmal einen handfesten Skandal gegeben, als zwei Studenten aus Düsseldorf, die sich für besonders schlau hielten, einige leere, aber wieder mit Kronkorken verschlossene Bierflaschen in den Kasten gestellt hatten. Sie taten dann beim Anstieg in die Mariensäulenwand, als ob sie diese Flaschen leertranken, aber einige aufmerksame Schlachtenbummler aus dem Hunsrück konnten mühelos echte Schluckbewegungen von vorgetäuschten unterscheiden und meldeten den Betrug beim Oberschiedsrichter.
Fortsetzung folgt: Lesen Sie Teil 2 am Montag im TV.
Extra

"Normal passiert da nichts" - so heißt der aktuelle Roman von Frank P. Meyer. Der aus dem Saarland stammende Autor ist zurzeit als Stadtschreiber in Trier aktiv. Ein Kapitel seines Buches, das im saarländischen Primstal spielt, beschreibt einen ungewöhnlichen Wettkampf, der mit viel Bier, Schnaps und der Trierer Mariensäule zu tun hat. Und den es tatsächlich gegeben hat - wenn auch nicht ganz in dieser verschärften Form. Um Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, den Stadtschreiber ein wenig näherzubringen und zugleich etwas unterhaltsame Lektüre mit viel Lokalkolorit zu bieten, drucken wir das Kapitel "Mariathlon" in einer vom Autor gekürzten Fassung in zwei Teilen ab. Viel Vergnügen! mic

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