Moderne Lernorte braucht das Land

Trier · Beobachtungen zur Digitalisierung des Hochschulwesens. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Michael Jäckel, Präsident der Universität Trier.

Seit Jahren wird die Universität mit der Erwartung konfrontiert, dass ihr die Besucher ausgehen. Gerne wird in diesem Zusammenhang auf eine Prognose des US-amerikanischen Ökonomen Peter Drucker verwiesen, der in den 1990er Jahren der herkömmlichen Universität bescheinigte, in 30 Jahren ein Relikt der Vergangenheit zu sein. Während die Zahl der jungen Menschen, die ein Studium aufnehmen wollen, von Jahrgang zu Jahrgang anstieg, erfreuten sich andere angesichts der neuen Vermittlungswege in der digitalen Welt an Botschaften wie "Warum noch 200 Menschen in einen Hörsaal bitten?", oder priesen ein Modell des Online-Studiums, das eher dem Wunsch einer Privatisierung des Bildungswesens als einer Verbesserung der Studierqualität entsprach. Die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden ist Kern des "universitas"-Gedankens. Nun gewann man den Eindruck, dass es sich um einen Ort handelt, der aufgesucht werden muss. Parallel dazu wurden Modelle favorisiert, die ein Studieren an beliebigen Orten erlauben. Hätte man die Zielgruppe, für die ein solches Studiermodell wünschenswert ist (in erster Linie Berufstätige, aber auch Personen, die aus verschiedenen Gründen an einen Ort gebunden sind), gleich mitgenannt, wäre manche Diskussion über den Campus der Zukunft überflüssig gewesen. In weniger dicht besiedelten Regionen machen Online-Studiengänge Sinn (man schaue nach Skandinavien oder Kanada). Im Fall einer Hochschuldichte, wie sie beispielsweise in Deutschland gegeben ist, nicht immer. Mit dem Begriff "Anwesenheitsinstitution" hat der Soziologe Rudolf Stichweh unlängst auf eine Tradition hingewiesen, die eben noch ganz im Sinne der "brick university" (also: ein reeller Ort) interpretiert werden kann und den Gedanken des gemeinsamen Studierens hervorhebt. Wer die intensivere Digitalisierungs-Diskussion in diesem Jahrzehnt Revue passieren lässt, der stellt nun zudem mit Erstaunen fest, dass viele Modelle und Konzepte auf eine gute Verzahnung von "brick" und "click" setzen. Aus dem Relikt wird ein moderner Ort.

Moderner Lernort
Ein englischer Kollege hat den prägnanten Satz formuliert: "Far from libraries being displaced by information technology, information technology has moved into libraries." Informationstechnologien haben Bibliotheken demnach nicht ersetzt, sondern sind in diese integriert worden. Die Bibliothek als Ort wird nicht mehr nur mit gefüllten Regalen assoziiert, sondern mit einer Umgebung, die reell ("brick") und virtuell ("click") zugleich ist. Als das Trinity College Dublin im Jahr 2010 eine Erweiterung erfuhr, bestaunte man nicht "heavy book stacks" (schwere Bücherstapel). Es war ein Lounge-Konzept "for the mind". Die digitale Bibliothek ist also nicht nur ein Synonym für ein zentrales Portal zum kulturellen Erbe, sondern ein Modernisierungsprogramm, das einen beliebten Ort belebt. Lautlosbereiche, Lernlounges, Lesecafés sind Beispiele, die diese Neugestaltung verdeutlichen. Sie werden auch bald an der Universität Trier Einzug halten.

Es geht also um die Gewährleistung eines modernen Lernortes, der nicht nur Wissen verbreitet, sondern auch analoge und digitale Lehrkomponenten gut miteinander verknüpft. Es müssen Signale wider die strukturelle Alterung der klassischen Universität gesetzt werden. Wenn die moderne Gesellschaft Wert auf "Access" (Zugriff, Verfügbarkeit) legt, muss auch die Universität diese Gelegenheitsstrukturen vorhalten: Datenbanken, elektronische Bücher (e-books), elektronische Fachzeitschriften, Apps etc. Der Begriff "digital" wird vielfältig verwandt und steht für viele Inhalte, die auch mit Lehre zu tun haben.

Analog und digital
Als mir der Rektor einer Partneruniversität die neuen, modernen Hörsäle auf seinem Campus zeigte, berichtete er mir, dass sich die Mathematiker massiv über das Fehlen der klassischen Tafel beschwert hätten. Dieses Beispiel zeigt, dass Digitalisierung in einem flächendeckenden Sinne wenig Anspruch auf Akzeptanz haben dürfte. Die Differenzen und Spezifika der jeweiligen Fächer müssen auch in diesem Prozess anerkannt werden. Man kann über den Begriff "Digitale Spaltung" und die damit verbundene Bedeutung geteilter Meinung sein. Aber auch für den Campus des 21. Jahrhunderts gilt, dass es inneruniversitär nach wie vor nicht nur erhebliche Akzeptanzunterschiede, sondern auch erhebliche Unterschiede im Bereich der digitalen Fertigkeiten gibt.

Das spiegelt sich auch in einem vergleichsweise positiven Ergebnis zum Stellenwert der digitalen Lehre wider, das eine im Auftrag des Hochschulforums Digitalisierung (ein Expertenforum zur Hochschulbildung im digitalen Zeitalter) durchgeführte Befragung im Frühjahr 2016 ergeben hat. Auf einer Skala von 1 = überhaupt kein Stellenwert bis 6 = sehr hoher Stellenwert wählten die niedrigste Option 2 % der befragten Hochschulen, 11 % die höchste, der Modalwert (also der am häufigsten vorkommende) lag bei 4 mit 29 %. Dahinter verbirgt sich ein überwiegend pragmatisch ausgerichtetes Konzept: 73 % sprechen von punktueller Anreicherung der analogen Lehre, 42 % von einem Einsatz bei aktuellen Herausforderungen. Das lässt viel Raum für Interpretation. Nur 2 % sprechen von ausschließlicher Präsenzlehre, 98 % sind unterschiedlich ambitioniert und mehr oder weniger kontinuierlich in der Welt der digitalen Lehre unterwegs.

In diesem Rahmen also bewegt sich der Auf- und Ausbau zentraler und dezentraler Kompetenzfelder. Aber diese punktuellen Experimente nehmen zu. Sie werden nicht unbedingt - was überraschen mag - von den Studierenden eingefordert. Den wissenschaftlichen Nachwuchs und die Inhaber von Professuren werden durchaus auch einmal zum Ausprobieren animiert. Wer sich digital umfassender engagieren will, braucht aber eine nachhaltige Unterstützung und Beratung. Die Erwartungen verändern sich, aber es gibt noch kein eindeutiges und neues Rollenbild, dem es zu entsprechen gilt. Eine digitale Zweitwelt ohne personelle Verstärkung ist zugleich sowohl illusorisch als auch wenig zweckmäßig. Wenige Hochschulen haben sich auf ein nahezu vollständig online angebotenes Studium mit geringen Präsenzphasen spezialisiert, häufig in Kooperation mit mehreren Partnern. Die Zielgruppe sind meistens nicht Erststudierende, sondern Personen, die sich berufsbegleitend weiterbilden wollen. Von einem bedeutenden strategischen Element im Rahmen der Gestaltung des Erststudiums kann nicht ernsthaft gesprochen werden. Anreicherung ist also das, was die meisten tun. Letztlich eine eher niedrigschwellige Einbindung von digitalen Elementen in den Lehralltag, aber durchaus ein Gewinn für das Gesamtangebot. So lassen sich, um nur ein Beispiel zu nennen, internationale Kooperationen mit Partneruniversitäten vorteilhaft in das Curriculum integrieren. Die Live-Übertragung eines Vortrags oder Videokonferenzen für gemeinsame Seminare lassen sich heute leicht realisieren. Im Rahmen eines gemeinsamen Workshops mit einer US-amerikanischen Partneruniversität wurde ein Redner aus St. Paul, Minnesota via Skype zugeschaltet. Auch eine anschließende Fragerunde verlief problemlos. Es gibt also sehr viele Anwendungsfelder und Beispiele, die genannt werden könnten. Sie ergeben aber in ihrer Gesamtheit keinen Ersatz für ein Bachelor- oder Masterstudium. Sie sollen dort für Abwechslung im didaktischen Ablauf sorgen, wo es sinnvoll ist. Die curriculare Verankerung dieser Bausteine steht noch am Anfang.

Digitale Organisation
Weitgehend angekommen ist die Digitalisierung im Bereich der Organisation des Studiums, und zwar in der Administration selbst als auch bei der Planung des Studiums durch die Studierenden. Ein Studium ohne eine elektronische Plattform, die Anmeldungen, Sprechstunden, den Zugriff auf Lehrmaterialien usw. erlaubt, ist heute nicht mehr vorstellbar. Neue Prüfungsformen (E-Assessment, E-Klausuren) etablieren sich ebenfalls erstaunlich schnell, ebenso die Dokumentation von schrittweisen Lernfortschritten (auch Learning Analytics genannt).

Als das bereits erwähnte Hochschulforum Digitalisierung im Dezember des vergangenen Jahres seinen Abschlussbericht vorstellte, war allen Beteiligten klar, dass es in diesem Prozess keinen wirklichen Abschlussbericht geben kann. Trotzdem: Das Interesse war groß, viele kamen aus der Praxis, ebenso viele wollten beobachten, welche neuen Kombinationen von Lehre in An- und Abwesenheit es gibt, was sich als brauchbar erweist, was als zu ambitioniert und zeitraubend eingestuft wird, was also zu diesem Schaltplan der Zukunft wohl gehören mag. Die Suche nach passgenauen Konzepten, die Lernbedürfnisse und technologische Optionen im Dienste des akademischen Auftrags besser zueinander führen, dauert also nun schon einige Zeit an. Ein besonderes Augenmerk erfahren sogenannte integrative Konzepte, die in- und außerhalb der eigentlichen Präsenzphasen mehr Beteiligung bzw. Einbindung der Studierenden gewährleisten. Man spricht auch von Kollaboration und experimentiert mit Programmen, die das gemeinsame Arbeiten an Dokumenten bzw. Projekten ermöglicht. Die Mitmach-Philosophie, die in vielen Bereichen des Alltags um sich greift, erreicht auf diese Weise auch das akademische Leben. Bereits im Jahr 1910 veröffentlichte übrigens Arthur Brehmer sein Buch "Die Welt in 100 Jahren". Darin äußerte sich ein Futurist auch über Erziehung, Bildung und Hochschulunterricht im Jahr 2010: "Es werden Gespräche sein, ein Gedankenaustausch [über Ätherwellen], weiter nichts, und es wird sehr oft die Frage sein, wer der Lernende sein wird, ob der Lehrer oder [der Studierende]. […] [Schulmauern werden fallen] und statt Zwingburgen des Geistes freie blumige Auen entstehen." Wieder sind es Mauern, die überwunden werden sollen. Ein "Mauern", ein Verweigern aus Prinzip - das würde das Akzeptanzklima nicht zutreffend beschreiben. Gegenwärtig lautet die Strategie: durch gute Beispiele überzeugen. Es werden Preise für gute digitale Lehre ausgelobt, E-Zertifikate für Studierende angeboten, aber auch Fortbildungskurse für das wissenschaftliche Personal, nationale und internationale Wettbewerbe gewährleisten eine Konkurrenz der Ideen. Wer eine Vorlesung des Jahres 2017 mit einer Vorlesung des Jahres 1987 vergleicht, der mag hier und da noch einen Beleg für das hartnäckige Stereotyp ("Alles beim alten") finden. Ein neutraler Beobachter aber müsste sich vermehrt positiv überrascht über das Ausmaß der Einbindung digitaler Elemente in die Darstellung des Lehrstoffs zeigen. In einer Vorlesung zur "Klassischen Archäologie" ist das ebenso der Fall wie in einer Mathematik-Vorlesung, die zwar immer noch viel Kreide benötigt, aber doch auch komplexe Simulationen visualisiert. Daher sorgt auch die gute Verbindung von Lehre und Forschung dafür, dass sich etwas bewegt. Dazu passt ein Wortspiel aus der Zeit der Weimarer Republik, das ein Bibliothekar in einem anderen Zusammenhang zur Illustration der Zukunft der Bibliotheken verwandt hat: "Die alte Schönheit ist nicht mehr wahr und die neue Wahrheit ist noch nicht schön."

Eine neue Balance
Mehrheitsfähig sind gegenwärtig vor allem versöhnliche Ausblicke. Wahrscheinlich ist das Wort "disruptiv" auch im Umfeld der Diskussion um die Zukunft der Universität zu häufig verwandt worden. Ein US-amerikanischer Universitätspräsident antwortete auf die Frage "Der Stanford-Campus im Jahr 2060 wird also im Großen und Ganzen so aussehen wie der Campus von 2016?" wie folgt: "Nicht ganz. Die Vorlesung als Format wird aussterben und durch neue Formate ersetzt werden, Flipped Classroom-Modelle zum Beispiel, wo Sie sich das Wissen zu Hause selbst erarbeiten und es dann im Präsenzkurs praktisch anwenden. Es wird auch mehr Video-Lehreinheiten geben. Außerdem werden wir intelligente automatische Tutorensysteme haben, die anhand individueller Stärken und Schwächen Online-Übungsprogramme für unsere Studenten erstellen. Wir werden also Veränderungen erleben, aber sie werden nicht alles über den Haufen werfen."
Wer will schon alles über den Haufen werfen? Zwischen den großen Visionen und der Sorge um den Relikt-Status hat man sich auf den Weg gemacht und lässt sich von Ergebnissen leiten. Prof. Dr. Michael Jäckel ist Professor für Soziologie an der Universität Trier. Seit 2011 ist er deren Präsident und wurde im Dezember 2016 für eine weitere Amtszeit gewählt. Er ist Mitglied des Rats für Informationsinfrastrukturen, vertritt die Interessen der Hochschulrektorenkonferenz im Rahmen des IT-Gipfels der Bundesregierung und arbeitet an zentraler Stelle im Hochschulforum Digitalisierung mit, das als interdisziplinär zusammengesetztes Expertenforum die Entwicklungen in der digitalen Welt beobachtet und analysiert. Er berät die rheinland-pfälzische Landesregierung in Fragen der Digitalisierung.

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