Interview Wie ernst ist die Krise der Demokratie?

Die westlichen Demokratien harren in einer Krise. Immer weniger Menschen engagieren sich in Parteien. Die gesellschaftliche Stimmung müsste sich drehen, sagt der Trierer Politologe Uwe Jun. Mit der Demokratie befasst sich auch ein neues Trierer Forschungsinstitut.

ARCHIV - 09.02.2017, Rheinland-Pfalz, Trier: Politikwissenschaftler Uwe Jun in seinem Büro an der Universität Trier (zu dpa «Forschung zu Demokratie und Parteien - Neues Institut wird eröffnet»). Foto: Birgit Reichert/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

ARCHIV - 09.02.2017, Rheinland-Pfalz, Trier: Politikwissenschaftler Uwe Jun in seinem Büro an der Universität Trier (zu dpa «Forschung zu Demokratie und Parteien - Neues Institut wird eröffnet»). Foto: Birgit Reichert/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Foto: dpa/Birgit Reichert

Der Trierer Politikwissenschaftler Uwe Jun, 59, hat sich in seiner Forschung unter anderem mit der Rolle von Parteien in der Demokratie und politischer Kommunikation beschäftigt. Der Direktor des neuen Trierer Instituts für Demokratie- und Parteienforschung (TIDuP) blickt nun der feierlichen Eröffnung der Forschungseinrichtung am Freitag entgegen. Bereits im Jahr 2021 war das Institut gegründet worden. Wegen der anhaltenden Corona-Pandemie kommt es jedoch erst jetzt zum Festakt. Es ist laut Universität Trier die erste Einrichtung, die in Rheinland-Pfalz zu Demokratie und Parteien forscht. Es will mit Veranstaltungen, Interviews und Publikationen wichtige Entwicklungen im politischen Raum kritisch begleiten und reflektieren – und dabei auch ins Gespräch mit Trierer Bürgerinnen und Bürgern kommen. Während der Professor für Politikwissenschaften der Universität Trier in seinem Büro mit dem Trierischen Volksfreund spricht, blickt er auf die anhaltende Krise der liberalen Demokratie – und darauf, was es bräuchte, um diese Starre zu überwinden.

Herr Jun, immer häufiger hören wir von der Krise, in der sich die Demokratie befindet. Erst neulich warnte ein Bericht des schwedischen Instituts für Demokratieforschung „International Idea“ vor einer weltweiten Erosion der Demokratie. Wie besorgniserregend ist die Lage?

UWE JUN Wir sehen tatsächlich, dass die Zahlen der liberalen Demokratien weltweit eher rückläufig sind und autoritäre Tendenzen zunehmen. Wir können auch erkennen, dass die Demokratiequalität insgesamt abnimmt. Demokratien bewegen sich in einem international fragileren Umfeld. Ihr Druck, sich zu legitimieren, ist gewachsen.

Laut dem Bericht hat sich die Lage der Demokratien in diesem Jahr sogar in 17 europäischen Ländern verschlechtert.

JUN In Europa würden wir vor allem nach Polen oder Ungarn blicken, wenn es um die Verschlechterung der Demokratiequalität geht. In Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orban haben es Oppositionspolitiker mittlerweile viel schwerer, weil ihre Rechte und damit Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt wurden. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit sieht sich dort massiven Angriffen gegenüber. International sehen wir die Demokratien unter Druck. Es gibt einen regelrechten Wettbewerb zwischen Demokratien und autokratischen Systemen.

Weshalb haben es Demokratien scheinbar schwerer als Autokratien?

JUN Demokratien sind immer darauf angewiesen, dass Bürger mitmachen. Ohne die Beteiligung der Bürger geht es nicht. In einer Demokratie braucht es eine gewisse Kompromissbereitschaft. Diese Kompromisse müssen ausgehandelt werden. Ein solcher Prozess braucht Zeit, kann langwierig und manchmal ermüdend sein.

Die Alleinherrscher können stattdessen ihre Entscheidungen selbst treffen.

JUN Autokratisch Herrschende können sich einfacher Legitimation verschaffen. In China ist das etwa die Ideologie der kommunistischen Partei, auf die sich die Machthaber berufen. Auch aus historisch begründeten Ansprüchen können Autokraten ihre Herrschaft ableiten. Das sind alles Gründe, weshalb es Autokratien oft leichter haben und liberale Demokratien anfälliger sind.

Man hat den Eindruck, dass es unter der Bevölkerung eine gewisse Politikmüdigkeit gibt. 1972 gingen noch 91 Prozent der Menschen zur Bundestagswahl, zuletzt waren es rund 76 Prozent.

JUN Wir müssen feststellen, dass es in liberalen Demokratien einen harten Kern von Nichtwählern gibt. Sie interessieren sich wenig für Politik, weil sie sich keinen Vorteil davon versprechen, wählen zu gehen.

Damit haben Sie sich auch in Bezug auf Trier beschäftigt.

JUN Richtig, wir haben uns in einem Projekt mit dem Phänomen der Nichtwähler auseinandergesetzt. Dabei haben wir etwa nach Trier-West und Trier-Nord geschaut, wo wir einen hohen Anteil von Nichtwählern feststellen. Es gibt dort eine große Politikferne und auch eine große Skepsis gegenüber der Politik. Nichtwähler denken meist, „die da oben“ machen, was sie wollen. Es ist sehr schwer, diese Menschen dann noch zu erreichen.

Manche denken, sie könnten nur alle vier Jahre ihr Kreuz machen und haben sonst nichts zu sagen. Kann man diese Sichtweise nachvollziehen?

JUN In einer Demokratie ist die Macht ja auf mehreren Ebenen verteilt, wir nennen das in der Politikwissenschaft Machtdiffusion. Selbst ein Bundeskanzler muss sich mit Länderchefs, mit Fraktionen und Koalitionspartnern arrangieren. Zudem finden Wahlen ja nicht nur alle vier Jahre statt, sondern häufiger: auf kommunaler, auf Landes- und auf EU-Ebene wird ja auch gewählt. Politiker schauen des Weiteren stark auf Umfragen und richten ihr politisches Handeln danach aus. Insofern hat die Bevölkerung durchaus einen großen Einfluss auf die Politik.

Gäbe es denn Möglichkeiten, der Politikferne entgegenzuwirken?

JUN Kommunen könnten vor Ort Politik erlebbarer gestalten. Wir sehen zudem, dass politische Bildung sehr wichtig ist, wenn es darum geht, Prozesse in einer Demokratie besser zu verstehen. Man müsste in der Schule schon frühzeitig die Schüler mit solchen Prozessen vertraut machen.

Da denke ich an 16-Jährige, die mit ihrer Schulklasse in zähen Bundestagsdebatten sitzen.

JUN Es ist viel wichtiger, die Vermittlung von Demokratie direkt in den Schulalltag zu integrieren - also die Schüler da abzuholen, wo sie sind.

Kann Ihr Trierer Institut für Demokratie- und Parteienforschung dabei eine Rolle in der Vermittlung von Demokratie übernehmen?

JUN Das ist das, was wir vorhaben. Es ist wichtig, dass wir die Demokratie nicht nur erforschen, sondern das, was erforscht wird, auch vermitteln. Einerseits an Studierende, aber auch an die Bürgerinnen und Bürger, die mehr über unsere Forschung erfahren wollen. Wir wollen mit ihnen mehr ins Gespräch kommen. Das versuchen wir auch mit verschiedenen Veranstaltungsformaten, zuletzt etwa zu dem Thema „Herausforderungen der Demokratie“.

Nun steht ja Deutschland erst einmal nicht schlecht da. Schaut man in den Demokratieindex der Zeitschrift „The Economist“, liegt Deutschland als vollständige Demokratie auf einem guten Platz 15. Dominieren tun das Ranking aber vor allem skandinavische Länder. Was machen die Skandinavier besser?

JUN Was dort noch besser funktioniert, ist, dass das Motiv der Gleichheit stärker ausgeprägt ist. Vor allem in Norwegen, Schweden oder Dänemark ist man noch mehr auf den sozialen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen aus.

Was meinen Sie damit?

JUN Zum Beispiel spielt der soziale Status in Skandinavien eine geringere Rolle – etwa im Gegensatz zu Frankreich oder England, wo die soziale Herkunft oder bestimmte Ausbildungsstätten sehr viel wichtiger sind. Bei unseren Nachbarn in Frankreich kommt es zum Beispiel verstärkt darauf an, ob Sie Eliteschulen besucht haben, was in Skandinavien weniger wichtig ist. Wenn die Unterschiede in einer Gesellschaft moderater sind, steigt oftmals die Zufriedenheit der Menschen, was dann zu besserer Bewertung der Politik führt.

Wenn es um die Krise der Demokratie geht, denken wir auch an die Parteien. Sie bilden das Zentrum der politischen Einscheidungsfindung. Damit haben Sie sich in Ihrer Forschung viel beschäftigt. Wie steht es um den Zustand der Parteien?

JUN Die Parteien sind in den westlichen Demokratien heute nicht mehr in einem Topzustand. Wir können sehen, dass die Blütezeit der Parteien, insbesondere des Typus der Volkspartei, vorüber ist. Aber bisher haben wir für sie noch keinen Ersatz gefunden.

Das ist eine düstere Perspektive. Woran machen Sie das fest?

JUN Zum einen gehen die Mitgliederzahlen der Parteien stark zurück. Auch sind die Parteien nicht mehr sehr stark gesellschaftlich verankert. Wenn Menschen von Parteien hören, löst das bei vielen keine Begeisterung aus, im Gegenteil. Zudem ist die Parteiidentifikation deutlich gesunken. Zwar gibt es auch heute noch ältere Stammwähler, aber vor allem junge Leute fühlen sich von Parteien emotional immer weniger angesprochen.

Warum haben die Menschen heute solche Probleme, sich mit Parteien zu identifizieren?

JUN Unsere Gesellschaft ist heute sehr viel individualistischer als früher. Die Einzelnen sind weniger bereit, sich an eine Partei zu binden. Das Phänomen sehen wir auch bei sozialen Verbänden oder Kirchen. Gerade die Volksparteien standen für eine Integration der Gesellschaft, in denen sich viele unterschiedliche Menschen zusammengefunden haben. Diese Integrationsleistung ist heute weniger gefragt. Neuere Parteien vertreten stärker einzelne Interessen. Die Gesellschaftsgruppen schotten sich mehr voneinander ab. Wenn Integration weniger gefragt ist, wird es aber auch immer schwieriger, einen Konsens zu finden. Dadurch steigt auch die Polarisierung der Gesellschaft.

Können Sie den Punkt ausführen?

JUN Wir sehen vor allem in den USA seit einigen Jahren diese starke Polarisierung. Dort befinden sich Republikaner und Demokraten zunehmend in einem Wertekonflikt, der beide Lager voneinander trennt. Aber auch in Deutschland beobachten wir immer mehr, dass unterschiedliche Werte die politischen Gruppen voneinander abgrenzen. So finden sie immer schwerer zueinander. Auch das trägt zur Krise der Demokratie bei. Bis in die 1980er-Jahre war jede Partei im Bundestag mit jeder anderen koalitionsfähig. Das ist heute nicht mehr der Fall.

Wie könnten sich die Parteien wieder stärker der Lebensrealität der Menschen annähern?

JUN Das wird keine einfache Aufgabe. Sie müssten sich stärker öffnen und versuchen, mehr Mitglieder zu gewinnen. Auch müssten sie sich anderen Meinungen gegenüber öffnen, was die Parteiführungen mit ihrer Stammklientel ausbalancieren müssten, die das meist ablehnt. Zunächst wäre wichtig, dass sich die gesellschaftliche Stimmung dreht.

Wie meinen Sie das?

JUN Parteien sind selber mehr Ausdruck der Entwicklungen, sie bilden die gesellschaftliche Stimmung oftmals ab. Aber ihr Einfluss darauf einzuwirken ist begrenzt. Andere Akteure sind hier wirkmächtiger, etwa Medien, die die gesellschaftliche Stimmung mitprägen. Die Medienlandschaft hat sich in den letzten Jahren stark fragmentiert ...

... früher gab es zwei Fernsehsender und ein paar überregionale Zeitungen.

JUN  Heute gibt es zahlreiche Medien. Und jeder entscheidet selbst, welches Medium er oder sie nutzt. Die Älteren lesen größtenteils noch Zeitung oder schauen TV, jüngere Menschen sind stärker in den sozialen Netzwerken aktiv. Das ist auch ein Grund, weshalb wir vermehrt Schwierigkeiten haben, uns auf eine gemeinsame gesellschaftliche Realität zu einigen, was wiederum zu einer Polarisierung der Gesellschaft beiträgt.

Die Chance, dass die Menschen über soziale Medien mehr Interesse an Politik oder Demokratie entwickeln, sehen Sie so nicht?

JUN Die Hoffnungen, dass sich durch soziale Medien mehr Menschen für Politik interessieren, haben sich nach jetzigem Stand nicht bestätigt. Ganz im Gegenteil scheinen soziale Netzwerke und Kanäle im Internet eher zu einer Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung zu führen. Es ist so, dass die Menschen in den sozialen Medien mehr mit sich selbst beschäftigt sind. Sie schotten sich mehr ab. Diejenigen, die schon vorher politisch aktiv waren, sind durch soziale Medien noch aktiver. Wer sich vorher schon nicht für Politik interessiert hat, bleibt auch weiterhin nicht aktiv.

Können wir uns aus diesem Zustand der gesellschaftlichen Stimmung selbst befreien?

JUN Dass die Gesellschaft diesen Wandel aus sich selbst heraus schafft, halte ich für unwahrscheinlich. Da bräuchte es eher einen externen Schock, der dann innere Auswirkungen entfalten würde. Militärische Konflikte oder sich zuspitzende Krisen könnten das sein.

Kommen wir zum Abschluss noch einmal auf die Parteien zurück. Wer engagiert sich heute eigentlich noch in Parteien?

JUN Wir sehen, dass sich vor allem akademisch ausgebildete Personen für Politik interessieren und daher auch in Parteien engagiert sind. Das Gefühl, dass man mit einem Parteieintritt etwas bewirken kann, ist bei Akademikern stärker ausgeprägt. Sozial geringer privilegierte Gruppen sind heute seltener aktiv. Früher gab es tatsächlich noch mehr Leute aus diesen Schichten, die man oft etwas abwertend als „Karteileichen“ bezeichnete. Die waren dann Mitglied einer Partei, weil sie für sich dachten, dadurch die Demokratie zu stützen, indem sie beispielsweise Mitgliedsbeiträge für „ihre“ Partei bezahlt haben. Das sehen wir heute bei Jüngeren gar nicht mehr.

Jeder macht sein Ding: Die Gesellschaft ist heute individualistischer als früher. Nach Ansicht  von Professor Jun sind die Einzelnen weniger bereit, sich an eine Partei, soziale Verbände oder Kirchen zu binden.

Jeder macht sein Ding: Die Gesellschaft ist heute individualistischer als früher. Nach Ansicht  von Professor Jun sind die Einzelnen weniger bereit, sich an eine Partei, soziale Verbände oder Kirchen zu binden.

Foto: Getty Images/Bim

Was würden Sie denn Bürgern raten, die sich engagieren wollen?

JUN Erst mal müssen Sie sich fragen, was Sie genau politisch interessiert. Dann gibt es zahlreiche Initiativen oder eben auch Parteien, die infrage kämen. Wenn man politisches Engagement zeigen will, ist man heute in den meisten Institutionen willkommen. Man kann sich auch sozialen Bewegungen oder Verbänden anschließen. Wenn Sie genügend Mitstreiter finden, könnten Sie übrigens auch eine eigene Partei gründen – die Hürden dafür sind relativ gering.

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