Kurzgeschichte Vom Pitter und dem Dorfschullehrer

Autor Bernhard Hoffmann aus Korlingen (Landkreis Trier-Saarburg) erzählt eine neue Geschichte vom Pitter aus dem frühen 19. Jahr­­hundert. Diesmal geht es um das Bildungswesen.

 Pitter organisiert für seinen Sohn  einen Platz in der städtischen Schule.

Pitter organisiert für seinen Sohn einen Platz in der städtischen Schule.

Foto: Christina Bublitz

Neben vielen guten Dingen, die die Franzosen um 1800 ins besetzte Trier gebracht hatten, der Freiheit, der Gleichheit – na ja, jedenfalls theoretisch –, mit dem Rechtspruch nach Gesetzes­texten statt nach Willkür, war noch die Schule zu nennen. Die war bis dahin in einem desolaten Zustand, kein Material und kein Geld. Na, ein Schelm, wer da an heutige Zeiten denkt. Und es mussten schon reine Idealisten sein, die da lehrten. Denn ihre An­erkennung stand umgekehrt proportional zum Honorar, besonders bei den Bauern.

Da kommt also eines Tages am Abend der Lehrer von Irsch, der die Korlinger, Gutweilerer und Hockweilerer Kinder unterrichtet, nach Korlingen und verlangt – ach was, verlangt – er bittet gleich einem Bettler um das Schulgeld. Das steht ihm zu, wovon soll er denn leben? Die Kinder singen schon hinter den Scheunen:
Am Sonntag ist er Organist, am Montag fährt er seinen Mist, am Dienstag hütet er die Schwein, das arme Dorfschullehrerlein!

Tatsächlich hatte mancher Viehhirt mehr Einkommen. Beim Pitter sitzt er niedergeschlagen und rührt das angebotene Glas Wein nicht an und auch nicht das Speckbrot. „Deine Bauern haben kein Geld, Pitter, was soll man da machen?“ – „So so, sie geben dir nichts?“ – „Na ja, so ein paar Francs.“ – „Ein paar Francs?“

Der Dorfschullehrer fordert mit Pitters Hilfe sein Schulgeld ein.

Der Dorfschullehrer fordert mit Pitters Hilfe sein Schulgeld ein.

Foto: Christina Bublitz

Von draußen hört man die Kinder weitersingen: Am Mittwoch fährt er in die Stadt und kauft, was er zu kaufen hat, ’nen halben Hering kauft er ein, das arme Dorfschullehrerlein.

Oh, wie grausam können Kinder sein. Und dem Pitter rumort es im Hirn, er ist wütend: Wie blöd muss man denn sein, denen, die einem die Welt eröffnen und erklären, das Salär zu verwehren? Denen, die nach dem elterlichen Funda­ment die Mauern über viele Stockwerke hochziehen? Denen, die zeigen, dass es über dem Dach noch einen Sternenhimmel gibt!

„Pitter“, sagt der Lehrer dann, „dein Bub, der Valentin! Da müssen wir was bereden …“ Aber der Pitter packt den mageren Kerl am Arm und stiefelt zum Ende des Dorfes, da fangen sie an: „Der Herr Lehrer bittet um das fällige Schulgeld!“ – „Aber, wir haben doch … Und außerdem war der Junge doch bloß im Winter von Martini bis Gertrud dort, wir brauchen ihn fürs Feld und das Viehhüten im Sommer.“ Bloß, da schaut der Pitter so scharf, dass sie zurückgehen in ihre Stube, die fehlenden Francs fließen unter seinen Augen wie selbstverständlich in die Hand vom Schullehrer, „und vielen Dank auch!“ Der Pitter beißt jedes Mal auf die Zähne, 20-mal haben sie den Lehrer beschissen. Ist es mehr die Scham oder die Wut, die seine Wangen rötet? Ach, lassen wir das, jeder denkt immer nur an seinen eigenen Vorteil, warum sollte das hier anders sein?

Aber ihr möchtet jetzt auch wissen, worum es hier bei dem Valentin geht. Also gehen wir schnell in die Küche zur Katharina und dem Pitter und lauschen den Worten des Lehrers, dass der Valentin auf die neue Schule in Trier gehen soll – er sei klug. Das wissen der Pitter und die Katharina zwar auch, denn der Bub ist ihnen über: Er rechnet schneller, liest besser, er hat Ideen, so Ideen … und kein Buch ist vor ihm sicher. Aber gottlos sollten sie sein, die republikanischen Schulen, herrje, so sagten doch alle! Und kein Mensch weit und breit aus Korlingen, aus Gutweiler oder sogar aus Irsch ging dorthin. „Sie lehren dort Latein und Französisch! Himmel, wie soll der Junge das denn verstehen?“, wirft die Katharina ein. „Ich habe Französisch gelernt, da wird er es auch können“, erwidert der Pitter. – „Dazu Geografie und Mathematik, Physik, Chemie …“ Was das denn alles sei und wozu man es brauche, fragen sie und werden immer unsicherer. Das könne doch kein Kind fassen; sei das nicht schädlich fürs Hirn, fragt die Katharina, das hatte sie gehört.

Ich frage mal schnell dazwischen, wer das wohl gesagt hat. Der Pitter glaubt das auch nicht, aber ... „aber, wie soll er denn da hinkommen?“ – „Geh direkt zu Johann Hugo Wyttenbach, das ist der Leiter der Schule, Pitter!“ Und so stiefelte der Pitter am nächsten Sonntag los. Da kam der Herr Professor persönlich ans Tor und erklärte, die Einschreibung sei mit 56 Schülern beendet, finis!

Aber ihr kennt ja den Pitter: Dann also noch mal am nächsten Samstag, und zwar direkt zur Schule mit der Katharina und dem Kandidaten Valentin. Da setzten sie gerade den Ofen für die kalte Jahreszeit. Der hatte blaue flämische Kacheln und war wunderschön. Der sei aus dem Kloster St. Martin, erklärte Wyttenbach, denn man hatte die Klöster säkularisiert und alles Kostbare und Taugliche requiriert oder zu Geld gemacht. Nur das Holz sei ihr Problem, wer hätte schon Wald in der Stadt. Alles müssten sie kaufen, aber wovon bei zwölf Francs Schulgeld pro Jahr? Da stößt die Katharina den Pitter an, und der sagt gedankenschnell: „Holz liefere ich, fünf Ster für den Winter (Anmerkung: Raummeter, eine Mengeneinheit für Holz).“ Professor Wyttenbach schaut den Pitter und die Katharina an, dann besieht er den Jungen. Denn wisst ihr, ein echter Pädagoge sieht in ein Kind ein Stück weit hinein, schaut, wie er geht und steht, hört seine Reden, die Fragen, das Nachfragen, die Neugier, den Glanz der Augen, die Freude an der Welt und an allem.

Der gefällt ihm schon – aber schon 56 eingeschriebene Schüler … Doch das wärmende Feuer geht ihm nicht mehr aus dem Sinn, es lernt sich besser im Warmen, da ist er ganz neuzeitlicher Pädagoge. „Ich müsste ihn examinieren.“ – „Tut das, wir bitten euch“, ruft die Katharina und nimmt seine Hand. Dann tut er das, kreuz und quer, die Eltern kommen nicht mehr mit, wie auch? Aber der Valentin hat seine Freude und gibt auf jede Frage eine Antwort. Nicht immer korrekt, doch gewitzt. Er steckt in keiner zurück, und der Herr Professor amüsiert sich mehr und mehr über die aufgeweckten Antworten des Jungen. „Ihr habt Recht getan, ich nehme ihn“, sagt er und klopft seinem Schüler Nummer 57 auf die Schulter. Beharrlichkeit führt zum Ziel. Und ob ihr es glaubt oder nicht, der Valentin wird später in preußischer Zeit tatsächlich Richter.

Vom Autor sind 24 der Erzählungen als Buch erschienen: „Der Pitter – Korlinger Geschichten I“, 140 Seiten mit 50 farbigen Illustrationen von Christina Bublitz, 18,90 Euro, ISBN: 9783755778547.

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