Forschung Geschichten für den Weg zur Weisheit
Trier · Bei einem besonderen Begegnungsprogramm bringen Forscher der Universität Trier junge und sehr alte Menschen zusammen. Profitieren sollen beide.
Es ist ein Bild zum Nachdenken: Nelson Mandela, Mutter Theresa, Sokrates und Emma Watson sind auf der Collage zu sehen. „Was haben diese vier Persönlichkeiten gemeinsam?“, fragt Psychologin Nicole Thomas in die kleine Runde, die sich an diesem Nachmittag in dem Besprechungsraum der Seniorenresidenz am Zuckerberg versammelt hat. Der 81-jährige Johannes Ludwig ist der einzige Mann. Ebenso wie die drei hochbetagten Seniorinnen und die vier Oberstufen-Schülerinnen des Angela-Merici-Gymnasiums überlegt er, blickt die Wissenschaftlerin an und versucht sich dann ebenso wie die anderen zögernd an Erklärungsversuche.
Das Thema sei Weisheit, verrät die junge Frau schließlich und bringt mit weiteren Fragen das Gespräch in Schwung. „Was macht Menschen weise? Und was bedeutet Weisheit eigentlich konkret?“ Johannes Ludwig, der ehemalige Hochschullehrer, nennt Albert Schweitzer als Beispiel für einen weisen Menschen. „Klug sein, bedeutet aber nicht, weise zu sein“, mahnt er. Die 18-jährige Lea Schons nickt. „Auch junge Menschen können richtige Entscheidungen treffen, ohne Weise zu sein.“ Und Eva Würdig (87) erzählt, wie sie nach dem Bau der Berliner Mauer mit ihrem Mann nach Westdeutschland gezogen ist. „Das war eine schwierige Entscheidung, aber mein Schwiegervater war weise, er hat uns geraten zu gehen.“ ...
Das Forschungsprojekt „Lebensgeschichten“ der Universität Trier bringt junge und Bewohner von Seniorenheimen zusammen. Bei den wöchentlichen Treffen bringen Nicole Thomas und die anderen wissenschaftlichen Mitarbeiter mit thematischen Stichworten die Gespräche in Gang, in denen die Jugendlichen oft Einblicke in Zeiten bekommen, die sie selbst nicht erlebt haben. Es geht auch darum herauszufinden, ob die Solidarität zwischen den Generationen durch ein solches Programm gestärkt werden kann. „Das Thema Weisheit hat bislang immer gut funktioniert, um die jungen und alten Menschen ins Gespräch zu bringen“, sagt Thomas. „Vor allem die Jugendlichen sind anfangs etwas schüchtern. Mit jedem Treffen tauen sie aber mehr auf.“
Junge und Alte sollen im Lauf der zehn Projektwochen Einblicke in das Leben, die Gedanken- und Wertewelt der jeweils anderen Generation bekommen. „Vor allem das Thema Werte läuft immer toll“, weiß Nicole Thomas aus den vier bereits abgeschlossenen Projektgruppen. „Da zeigen sich große Übereinstimmungen, zum Beispiel, wenn es um die Bedeutung von Hilfsbereitschaft und Ehrlichkeit geht.“
Doch bei diesem Treffen in der Residenz am Zuckerberg steht das Thema Weisheit auf der Agenda. Was waren richtige Entscheidungen im Leben? „Meine klügste war es, hierher gegangen zu sein“, freut sich Senior Johannes Ludwig. Ruth Drost-Linicius (85) sieht das differenzierter: „Gesund hier einzuziehen ist leichter, als wenn man Hilfe braucht.“ Sie deutet entschuldigend auf ihre Ohren. Die Schwerhörigkeit mache es ihr nicht immer einfach. Sie überlegt. „Ich habe mich nach einem Unfall dafür entschieden, Volksschullehrerin zu werden. Das war eine gute Entscheidung.“
Eine der Schülerinnen erwidert fast entschuldigend, sie sei erst 17 und habe noch nicht viel selbst entschieden. Lea Schons ist sich dagegen sicher, dass sie bereits eine wichtige Sache richtig gemacht hat: „Ich habe mich bewusst für meine Schule entschieden, obwohl alle meine Freunde in eine andere Schule gegangen sind.“
Was ist mir persönlich wichtig im Leben? Wie gehe ich mit den Höhen und Tiefen des Lebens um? Das sind letztlich die Kernfragen im Projekt Lebensgeschichte. Anhand von Fragebogen, die von den Teilnehmern nach jedem der 1,5 Stunden langen Treffen ausgefüllt werden, untersuchen die Wissenschaftler aus dem Bereich Entwicklungspsychologie, wie sich im Laufe der Gespräche Einschätzungen und Gefühle verändern. Die Zwischenergebnisse aus den ersten vier der insgesamt zwölf Gruppen sind vielversprechend: Tatsächlich profitieren beide Gruppen von den tiefen Einblicken in die Lebenswelt und Geschichte der andern. „Das Verständnis füreinander nimmt zu“, sagt Nicole Thomas. „Wir beobachten besonders, dass bei den Senioren das Bewusstsein für den Sinn des eigenen Lebens im Alter wächst.“ Vom Konzept des Projekts ist sie nach wie vor überzeugt. „Es gibt viele Gruppen, bei denen Jugendliche alten Menschen Gutes tun. Unser Ziel ist es aber, dass beide Gruppen davon profitieren.“
Bei den Teilnehmern der Gesprächsrunden in der Residenz am Zuckerberg gibt es daran keinen Zweifel, auch wenn sie den Schlüssel zur Weisheit nicht gefunden haben. „In meinem Leben habe ich ständig Entscheidungen getroffen“, sagt eine der Seniorinnen. „Ob die alle gut waren, kann ich nicht sagen. Aber Eines weiß ich: Es ist immer klug, sich ein Hintertürchen offen zu halten.“