Pulswärmer für den Rokoko-Gärtner

Trier · Eine junge Straßenkunstform, Urban-Knitting, hat ihren Weg nach Trier gefunden. Die Polizei blickt gelassen auf das Einstricken von öffentlichen Gegenständen. Mit Papptafeln stattet ein Unbekannter Bäume mit Gesichtern aus.

Ungläubig blickt Helene Rieber (67) auf die Florastatue des Rokokokünstlers Ferdinand Tietz. Entrückt schaut die Göttin der Getreideblüte im Palastgarten in den Himmel. Grazie und Würde gehen in ihrem Antlitz Hand in Hand. Rieber wirkt kurz irritiert, dann beginnt sie zu schmunzeln. Nicht das Gesicht der Holden hat Riebers Aufmerksamkeit geweckt, sondern ein gestricktes Stirnband, das jemand der Statue aufgesetzt hat. "Na, kalt wird der Guten heute auf jeden Fall nicht. Ob wohl die anderen Figuren auch mit Strickwaren ausgestattet sind?", fragt die Touristin und wird tatsächlich im ganzen Palastgarten fündig. Fast jede zweite Tietzfigur ist von fremder Hand mit einem Accessoire aus Wolle ausgestattet worden: Manche tragen Pulswärmer, andere einen molligen Schal. "Ist das Kunst? Streetart? Schöner als irgendwelche Sprühereien ist das mit Sicherheit. Ich finde so was lustig. Das bringt Farbe in unsere Städte und macht auch nichts kaputt", sagt die Seniorin und bummelt vergnügt weiter auf der Suche nach weiteren Kunstwerken. Falls sie mit offenen Augen durch die Stadt gelaufen ist, wird sie erfolgreich gewesen sein. Offensichtlich boomt nämlich die alternative Streetart-Szene in Trier.Nicht nur sogenanntes Urban-Knitting, eine noch recht junge Kunstform, bei der Gegenstände im öffentlichen Raum eingestrickt werden, lässt sich in der Moselmetropole finden, auch die Bäume in der Stadt beginnen seit geraumer Zeit zu lächeln, zu zwinkern und zu strahlen. Ein unbekannter Künstler schenkt ihnen Gesichter aus Papptafeln. "Plötzlich sieht die Welt so freundlich aus", staunt Christian Fleissner (29). Der Student aus Baden-Württemberg würde sich durchaus wünschen, dass sich diese Form der Streetart schnell in der ganzen Bundesrepublik verbreitet. "So manches triste Örtchen würde dadurch sicher gewinnen", sagt erDa die kreative Gestaltung des öffentlichen Raumes sich rechtlich in einer Grauzone bewegt, sind die Künstler sehr zurückhaltend. Zwar scheint Urban-Knitting oder das Anbringen von Pappgesichtern generell unbedenklicher zu sein als das Sprühen von Graffiti, die bei Anzeige die Sprayer durchaus teuer zu stehen kommen können, trotzdem scheuen die neuen Straßenkünstler das Licht der Öffentlichkeit. Wenn überhaupt, sind sie über das Internet miteinander verknüpft, beispielsweise über den Kurznachrichtendienst Twitter.
"Ich kenne ein paar Gleichgesinnte, aber auch nur wenige", sagt die Künstlerin Margarethe (54) aus Föhren. Sie sei noch quasi ein Frischling, habe erst vor wenigen Wochen angefangen Dinge einzustricken. "Gehört hatte ich schon vom Urban-Knitting. Als ich dann die Arbeiten im Palastgarten gesehen hatte, hielt ich es für die richtige Zeit, selber aktiv zu werden", erklärt sie. Ein Baum vor ihrer Haustür wurde zur Gesellenarbeit, eine Laterne hat sie auch schon mit einem bunten Wollüberzug ausgestattet. "Es geht eigentlich ganz schnell. Man sucht sich ein Objekt aus, strickt daheim in der passenden Größe einen Überzug und näht ihn vor Ort einfach zusammen", sagt die Streetart-Künstlerin. Zu ihren Beweggründen befragt wird sie leidenschaftlich: "Ich glaube einfach, dass die meisten Menschen zu unbewusst durch ihr Leben und ihre Welt stolpern. Durch Urban-Knitting kann man sie für einen kleinen Augenblick aus ihrem Trott reißen und dazu bringen, ihre Umwelt wahrzunehmen."
Die Polizei blickt gelassen auf das Treiben der Szene. Monika Peters von der Pressestelle des Polizeipräsidiums Trier betrachtet die Angelegenheit nüchtern: "Graffiti sind eine schwierige Sache; etwas einzustricken, ist da schon unbedenklicher. Solange nichts beschädigt wird, sich niemand beschwert oder etwas zur Anzeige bringt, gibt es für uns keinen Handlungsbedarf. Bisher wurde auch noch nichts bei uns gemeldet." Extra Urban-Knitting

Urban-Knitting oder auch Guerilla-Knitting ist eine erst seit wenigen Jahren auftretende Form der Streetart. 2005 hat sich im amerikanischen Housten die erste Vereinigung von Strickerinnen gegründet. Beim Urban-Knitting werden Gegenstände im öffentlichen Raum mit gestrickten Accessoires ausgestattet. Bäume bekommen dabei beispielsweise Pullover, Parkbänke einen Wollüberzug oder Straßenschilder eine gestrickte Verkleidung, die aber meist das Schild als solches weiterhin erkennen lässt. Die ersten Strickarbeiten traten in Deutschland vermutlich 2010 auf.

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