Raum für kleine Helden

Bis die großen Leute ihnen beigebogen haben, dass ausschließlich Schuhe aus Gummi nass werden dürfen, Hände vornehmlich zum Waschen da sind und nicht mehr als die drei vom Hersteller beabsichtigten Löcher in Hosen gehören, sind Kinder Abenteurer ohne Furcht und mit viel Tadel.

Führt bei großen Leuten das Polieren ihres Autos oder das Lob der Nachbarin über den selbstgebackenen Kuchen zur Endorphinausschüttung, setzen Kinder auf elementarere Glücksbringer. Ein Bach zum Beispiel. Er lässt sie im Entdecker-Rausch vergessen, an was Eltern so denken: sie könnten ertrinken, sie sollen in einer halben Stunde zuhause sein und ihre sündhaft teuren Lederschuhe wurden nicht zum Wassertreten angeschafft. Für meine Söhne und ihre Freunde abwegige Gedanken.

Dass auf einmal hinter ihnen der Opa auftaucht, in hochgekrempelten Hosen, die Schuhe in den Händen wild gestikulierend, Quaddeln an den Beinen von beißenden Brennnesseln, nach Umkehr und von gefährlichen Wassertiefen rufend, unterbricht sie nicht nachhaltig darin, dem weiteren Lauf des Wassers zu folgen. Erst als geraume Zeit später auch der Papa noch durch die Uferbüsche bricht und sich die Nichtschwimmer-Ausreißer beim Schlawittchen packt, unterwerfen sie sich dem Plan der großen Leute, den Bach gegen einen Tisch im Restaurant anlässlich Omas Geburtstag einzutauschen. Mädchen striegeln auch nicht nur ihre rosa Lillifee-Pferde oder backen in der Puppenküche Plätzchen. Ich kenne zwei, die haben neulich kurzerhand ein Tor des Kindergartengeländes überwunden, um sich auf Wanderschaft zu begeben. Ihr Ziel war Norderney.

Doch auf dem Zwischenstopp bei einer der beiden dem Freiheitsruf folgenden Vierjährigen setzte die verdatterte Haushälterin ihrer Reise ein jähes Ende. Mein erster Gedanke: Kinder unterm Auto, Kinder entführt, Kinder verirrt - der Kindergarten braucht einen unüberwindbaren Zaun. Die Antwort einer Erzieherin: "Dann hoffe ich, dass es immer Kinder geben wird, die einfallsreich genug sind, um auch diesen Zaun zu überwinden." Hoppla! Leichtsinn, Verantwortungslosigkeit, Naivität? Nein. Die Überzeugung, dass Kinder, Freiheit, Entdeckerlust und Abenteuerfieber zusammengehören. Dagegen hilft (hoffentlich) nicht mal Fernsehverbot.

Sybille Schönhofen

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