Raus aus dem Alltag

Die Google-Suchmaschine liefert zum Stichwort Pilgern 2 140 000 Einträge innerhalb von 0,17 Sekunden. Ein Blick auf die Auslagen in den Buchläden bestätigt das große Interesse: es gibt eine Fülle an Büchern, Wegbeschreibungen und Reiseberichten zum Thema Pilgern.

Ein mittelalterliches Ritual in einer Zeit technischer Höchstleistungen in Sachen Effizienz, Schnelligkeit und allgegenwärtiger Erreichbarkeit? Ein Pilger-Boom?
Dazu ein Zahlenvergleich: Nach Lourdes sind jährlich etwa eineinhalb Millionen Wallfahrer unterwegs, in Guadalupe in Mexiko finden sich jedes Jahr sogar 14 Millionen Wallfahrer ein. Daneben nehmen sich die seit 2006 etwa 100 000 Pilger, die pro Jahr in Santiago ankommen (1990 waren es durchschnittlich 5000) verhältnismäßig gering aus. Dennoch scheint das Pilgern wieder "in" zu sein. Das Unterwegs-Sein mit Rucksack und Wanderschuhen, der Muschel als Pilgerzeichen hat einen neuen Stellenwert bekommen, wird nicht mehr als Spielwiese für religiöse Spinner belächelt.
Was macht das Pilgern für den modernen Menschen attraktiv? Die Beweggründe sind so unterschiedlich wie die Menschen, die zu Pilgern werden. Allen gemeinsam scheint aber eine Unruhe zu sein, die sie in Bewegung setzt, ein Unbehagen mit ihrer derzeitigen Lebenswirklichkeit, eine Sehnsucht nach "Mehr-Sein-als- Haben". Die Vielfalt an Sinn- und Lebenswelten im Angebotsregal unserer pluralistischen Gesellschaft wirkt verwirrend, damit eher identitätsauflösend als -stärkend.
Sich selbst als Fremden erleben


Pilgern kann zu einem Modell der Identitätsfindung werden, der Neuorientierung im zeitlich begrenzten Freiwerden von festgelegten Lebensmustern. Der Pilger steigt aus dem Alltag aus, begibt sich in die Unbehaustheit des Weges, in die "Fremde", in der er sich selbst als Fremder erleben wird. Damit setzt er sich den Unplanbarkeiten und Risiken des Weges aus, sei es auf der Suche nach dem richtigen Weg, einer Unterkunft, Schutz vor Regen und Sturm oder ärztlicher Versorgung.
Pilgern begrenzt sich aber nicht auf das bloße Gehen um des Gehens willen, sondern lebt von der Sogwirkung des Zieles, das der Pilger erreichen will. Auch wenn der Weg selbst zum Ziel werden kann, indem bereits unterwegs erfüllende und bereichernde Erlebnisse in der Begegnung mit der Natur, mit Menschen und kulturellen Schätzen möglich sind, stellt die Ankunft am Wallfahrtsort den Höhe- und Schlusspunkt der Pilgerschaft dar. Die Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 in Trier bietet als Christuswallfahrt ein solch attraktives Ziel für viele Menschen, die sich der Herausforderung des Pilgerns stellen wollen.
Was einen Pilger zu einem "echten" Pilger macht, wird viel diskutiert. Hängt es von der Anzahl der zurückgelegten Kilometer ab, dem Ausmaß der körperlichen Anstrengung, der Wahl der Unterkunft: Hotel, Herberge, Turnhalle oder Zelt? Nein! Entscheidend ist einzig die persönliche Bereitschaft, sich mit Haut und Haar auf einen Weg der Begegnung mit seinem eigenen Selbst-, Gottes- und Jesusbild einzulassen.
Nach Trier laden sieben exemplarische Wege aus allen Himmelsrichtungen in zwei bis neun Tagesetappen dazu ein. Zusätzlich bieten sechs Tagespilgerwege die Gelegenheit, zumindest einen halben oder ganzen Tag als Pilger unterwegs zum Heiligen Rock zu sein. Um auch diese kurzen Wege als spirituelle Bereicherung zu erleben, lassen sich zurzeit über 80 Menschen in unserem Bistum Trier und in Luxemburg zu Pilgerführern qualifizieren, die eine besondere Form der Wegbegleitung anbieten.
Endlich am Ziel in Trier angelangt, hält die Pilgeroase, ein Zeltdorf, das in Kooperation mit den Barmherzigen Brüdern auf dem Gelände des Brüderkrankenhauses errichtet wird, ihre Pforten weit geöffnet. Dort kann sich der erschöpfte Pilger stärken und ausruhen, mit anderen Pilgern über die Freuden und Mühen des Weges austauschen, um dann erfrischt zum Dom zu schreiten. Als besonderes Zeichen der Anerkennung wird jedem Ankommenden eine Pilgerurkunde ausgehändigt.
Die Heilig-Rock-Wallfahrt kann für jeden Ursache und Anlass werden, herauszufinden: Wie buchstabiere ich PILGERN? Hier meine Variante:

P wie Persönlich,
I wie Irritation,
L wie Loslassen,
G wie Gehend,
E wie Entschleunigen,
R wie Religion und
N wie Neuwerden.
Ein Gastbeitrag von Karin Müller-Bauer, Leiterin des Bereichs "Pilgerwege und Pilgertage" der Heilig-Rock-Wallfahrt.

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