Sehen ohne Augenlicht

TRIER/SCHWEICH. In einem Workshop zur Foto-Grafik-Ausstellung "Gesang der Materie" von Markus Bydolek haben Schüler des Schweicher Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums und blinde Jugendliche aus Lebach zwei intensive Begegnungen erlebt: Die mit der Kunst und die miteinander.

In ihren auf Kinder zugeschnittenen Führungen durch Kunstausstellungen in der Tufa Trier hat sich für Christina Biundo, Kunsthistorikerin und -kuratorin, bestätigt: "Bildbetrachtung von Kindern beschränkt sich nicht allein darauf, Erscheinungen der sichtbaren Welt wiederzuerkennen und einzuordnen. Sie durchdringt Stimmung und Struktur und beantwortetet sie mit eigenen Gefühlen." Ergreifender Moment verschlägt allen den Atem

Die Erkenntnis, sich nicht ausnahmslos auf die Augen verlassen zu müssen, um "sehen" zu können, legte den Grundstein zur Idee, in integrativen Workshops sehende und blinde Kinder gemeinsam Bilder betrachten zu lassen. Die Werke von Markus Bydolek erschienen besonders geeignet, da auch ihr Thema nicht in erster Linie die Abbildung momentan sichtbarer Realität, sondern allgemein gültiger Strukturen ist. Für das von der Nikolaus-Koch-Stiftung unterstützte Projekt wurde die im saarländischen Lebach angesiedelte Louis-Braille-Schule gewonnen. Die Lehrerinnen Ursel Schuh und Ute Piro haben sich an diesem Morgen mit ihren elf- bis 18-jährigen Schützlingen Larissa, Tobias, Hannah, Julia, Ugor und Simon auf den Weg in die Galerie Junge Kunst in Trier gemacht. Dort warten bereits Jugendliche der Klasse 7b des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums in Schweich, die die sechs einige Tage zuvor in Lebach kennen gelernt und dabei Patenschaften übernommen haben. Sie sind mit ihrem Musiklehrer Martin Sons vor einem Bild versammelt, alle haben Musikinstrumente. Damit produzieren sie harmonische Klänge, die den Neuankömmlingen Wohlfühlatmosphäre vermitteln sollen. Aber nicht nur das: "Wir werden Euch jetzt das Bild mit Klängen beschreiben - nicht, was darauf zu sehen ist, sondern was man spürt, wenn man es anschaut", erklärt Christina Biundo. Ein Teil des ausgewählten Bildes, der "Nadelwald", wird in Klänge umgesetzt. Spitz, kurz, zackig, dumpf lassen sich Trommeln, Vibraphon, Klangstäbe, Lithophon und andere vernehmen. Ja, ein passender Klang für Nadelwald finden die Lebacher, nur Ugor sagt: "Das Xylophon, das war mittendrin, ohne Nadeln." Die blinden Schüler versuchen es jetzt selbst, transformieren ihr Gefühl in gleichförmige Rhythmen. Dann sind Wolken dran, die die Schweicher recht schwer interpretieren, die Lebacher dagegen leicht und luftig. Dann kommt ein ergreifender Moment, der allen Anwesenden den Atem verschlägt: Die Bildebene "Berggipfel" wird vertont - und plötzlich fängt Simon, der weder Augenlicht noch ein funktionierendes Gehör hat, an zu singen: "Wenn ich auf den Gipfeln stehe..." Er singt von Ewigkeit, Freiheit, von Luft, die klar wie Diamant ist. Applaus bricht los, danach sind die Jugendlichen noch begeisterter dabei. Die sinnliche Bildbetrachtung, in deren Verlauf auch Materialien gefühlt und Bewegungen erprobt werden, vereint die Vorstellungen der Jugendlichen. "Ich würde das gern öfter machen, sagt Tobias. Julia findet es auch "ganz toll", vor allem, weil es eine der in ihrem Leben seltenen Begegnungen mit normal Sehenden ist. Alina, ihre Patin aus Schweich, nennt Julia eine "Freundin" und sagt: "Es ist eine tolle Erfahrung, mit jemandem Kontakt zu haben, der nicht sehen kann, aber trotzdem die gleichen Interessen und Bedürfnisse hat."

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