Sehen statt hören

Fast alles läuft optisch bei Norbert Herres. Der Kaseler kompensiert durch Sehen seine Hörschädigung. Für ihn keine Behinderung, sondern ein Grund, Hörende zu Toleranz aufzurufen und Hörlose ehrenamtlich zu unterstützen.

 Norbert Herres aus Kasel macht alles mit seinem linken Arm, auch Radfahren. Als Landessportwart und in der katholischen Gehörlosengemeinde setzt er sich ehrenamtlich für Gehörlose ein. TV-Foto: Mechthild Schneiders

Norbert Herres aus Kasel macht alles mit seinem linken Arm, auch Radfahren. Als Landessportwart und in der katholischen Gehörlosengemeinde setzt er sich ehrenamtlich für Gehörlose ein. TV-Foto: Mechthild Schneiders

Trier/Kasel. Ein Blitz zuckt durchs Wohnzimmer - es klingelt. Ob jemand anruft oder vor der Haustür steht, erkennt Norbert Herres an den Lämpchen an der Wand, die gleichzeitig zum Lichtsignal aufleuchten: das grüne steht fürs Bildtelefon, wenn das rote blinkt, schellt die Türglocke. Hightech wie das Telefon mit Bildschirm ist notwendig in seinem Haus in Kasel. Denn Herres ist hörgeschädigt, seit er im Alter von neun Monaten an Menengitis (Hirnhautentzündung) erkrankte. Er kann zwar akustische Reize mit seinem Hörgerät wahrnehmen, doch Gesprochenes hört er nicht.

Dennoch kann sich Herres gut unterhalten, auch mit Hörenden: Er liest von den Lippen ab und spricht mit ihnen. Auch die Gebärdensprache beherrscht er - einhändig. Denn nach einem Unfall auf den Gleisen der Hochwaldbahn hat der Kaseler mit elf Jahren den rechten Arm verloren. "Ich musste lernen, alles mit links zu machen."

Schiedsrichter mit Fahne statt Trillerpfeife



Vieles sei nur Gewöhnungssache, wie beispielsweise im Sport, sagt der 51-jährige leidenschaftliche Radfahrer. "Das ist nicht schwierig. Wir machen alles visuell, müssen viel schauen." Sein Rad ist eine Spezialanfertigung mit Schaltung und Bremsen auf der linken Seite. Herres ist von Jugend an sportlich aktiv, spielte schon als Kind Fußball und Tischtennis im Verein. Doch er kann die Geschwindigkeit des Balles nicht hören, nicht die Schritte auf dem Rasen oder das Quietschen der Sohlen auf dem Hallenboden. "Früher waren wir isoliert, weil wir nichts hören können." Deshalb habe er 1974 mit elf Kameraden den Gehörlosen-Sportverein (GSV) Trier gegründet. Statt mit der Trillerpfeife unterbricht hier der Schiedsrichter das Spiel mit einer Fahne. Mit 52 Mitgliedern aus der Region und Luxemburg ist er der drittstärkste im Land.

Hier hat Herres auch seine Frau Daniela kennen gelernt. Mit ihr - ebenfalls gehörlos - unterhält er sich in Gebärdensprache, die auch die vier Kinder beherrschen. Sie sind es, die Herres dazu bewegten, sich in diesem Jahr aus dem Vorstand des Trierer GSV zurückzuziehen. Auch wenn er die Fußballschuhe an den Nagel gehängt hat, er spielt Badminton und fährt Rad. Und als Landessportwart beim Gehörlosen Sportverband Rheinland-Pfalz betreut er die sechs Vereine im Land. Zudem organisiert er die Landesjugendspiele und Landesmeisterschaften - zuletzt im Juni auf dem Trierer Petrisberg.

Das sportliche Ehrenamt füllt Herres keineswegs aus. Seit 2001 ist er im Pfarrgemeinderat der katholischen Gehörlosengemeinde im Bistum Trier, die Gottesdienste in Gebärdensprache in der Herz-Jesu-Kirche gestaltet. Außerdem leitet er den Arbeitskreis "Politik und Soziales". "Ich könnte noch viel mehr machen", erzählt Herres, aber er habe Nein gesagt - der Familie zuliebe.

Auch beruflich bewegt er viel - und zwar Geld: Der Verwaltungsangestellte ist in der Finanzabteilung der Kreisverwaltung Trier-Saarburg tätig. Die Kommunikation im Büro klappe gut. "Neue Mitarbeiter müssen lernen, mich beim Ansprechen anzuschauen." Mündliche Telefonate übernehmen Kollegen.

Und auf seinem Schreibtisch steht ein Schreibtelefon. Denn was Herres nicht hören kann, muss er sehen.

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