Verbrechen Tote Schülerin in Trier: Ein Vormittag am Tatort zwischen Hass und Trauer, Rosen und Müll

Trier · Was wird aus der kollektiven Trauer, wenn die Flutwelle der Emotionen allmählich abebbt und der Alltag wieder einkehrt? Ein Vormittag an jenem Ort, wo eine 16-Jährige brutal aus dem Leben gerissen wurde, zeigt: Die Trierer werden das Schicksal der Schülerin wohl so schnell nicht vergessen.

Trier. Aus der Ferne trägt der Wind das Glockenläuten des Doms herüber in diese entlegene Ecke Triers, streift über Häuser, Gleise und Müllhaufen hinweg, durchquert die schmutzig-gelbe, nach Urin stinkende Halle, in der einst Busse gewaschen wurden, und bläht die weißen Laken, auf denen die Menschen ihren letzten Gruß für das Mädchen hinterlassen haben. Ruhe in Frieden, kleiner Engel. Ich liebe Dich. Wir werden Dich niemals vergessen.

Etwas mehr als zwei Wochen ist es her, dass eine 16-jährige Schülerin an diesem Ort brutal erstochen und anschließend verbrannt wurde. Der mutmaßliche Täter, ihr 24 Jahre alter Nachbar sitzt, weil er dringend des Totschlags verdächtigt wird, in Untersuchungshaft. Über mögliche Motive äußert sich die Staatsanwaltschaft bisher nicht.
Etwas mehr als zwei Wochen nur. Doch die Welt hat sich weitergedreht. Nun brennen Kerzen in den Alpen und im westfälischen Haltern am See, wo der Tod von 16 Schülern und zwei Lehrerinnen betrauert wird. Nun hat ein anderer womöglich noch größere Schuld auf sich geladen. Und wieder rollt eine Woge der Verzweiflung, der Trauer und der Wut durch das soziale Netz. Was bleibt, wenn diese Welle der gemeinsamen Gefühle sich überschlägt, ausrollt, abebbt und allmählich Ruhe einkehrt?"Der Satan soll ihn quälen"


In den Brombeerhecken zwitschern Vögel. Zwei Männer nähern sich dem Herz aus Grabkerzen, den Hunderten Rosen und Tulpen, den Teddybären, Marienstatuen und Engeln, die an die getötete Schülerin erinnern. Einer von ihnen, ein Mann mit einer auffälligen Tätowierung im Gesicht, sitzt sonst oft hinter dem nahe gelegenen Discounter und trinkt Bier. Nun schaut er, ob Grabkerzen ausgewechselt werden müssen oder Blumen Wasser brauchen. "Das ist sehr traurig", sagt er mit Blick auf das Holzkreuz und weint. Sein Sohn sei mit Laura-Marie befreundet gewesen. Als Kinder hätten die beiden immer zusammen gespielt. "Ich will, dass der Täter in der Hölle schmort. In einer dunklen Kiste", sagt er voller Hass und presst zwischen seinen Händen eine imaginäre Kiste, die nicht größer ist als ein Schuhkarton. Der Satan solle den Verbrecher quälen.

Währenddessen schreiten zwei Frauen mit traurigen Blicken an der Wand aus weißen Laken entlang und lesen die Worte des Abschieds. "Es ist unfassbar", sagt Katja Mehlich aus Tarforst, die auch ein Kind in dem Alter hat. Die Tat zeige, dass so etwas überall passieren könne. Mit dem sozialen Brennpunkt Trier-Nord habe das jedenfalls nichts zu tun, betont sie und erinnert an die junge Japanerin, die auf dem Petrisberg getötet wurde.

Mehr als 30 Jahre ist das nun her. Doch die Trierer halten die Erinnerung an Mutsuko Ayano, die wegen 90 Mark totgetreten wurde, lebendig. Eine Straße wurde nach ihr benannt, ein Stein errichtet, zum 30. Todestag gab es eine große Gedenkfeier.

Auch Laura-Marie soll einen Gedenkstein bekommen. Das jedenfalls wünscht sich Florian Blaes. Der 26-jährige Kaufmann kannte das Mädchen gar nicht. Ja, bis vor kurzem war er nicht einmal Trierer. Doch als er auf Facebook las, dass die Schülerin vermisst wurde, wollte er suchen helfen. Nur eine Stunde später fand man ihre Leiche. "Das Entsetzen war riesig. Was geht da in der Familie vor? Das ist das Schlimmste, was passieren kann", sagt der junge Mann, der selbst eine Schwester verloren hat. Aus dem Wunsch heraus, der Familie irgendwie zu helfen, entschied er sich spontan, einen Trauermarsch zu organisieren - nicht ahnend, welch enormer Hass auf den Täter sich in der Gedenkgruppe auf Facebook entladen würde, die schnell mehr als 5000 Mitglieder zählte. Die Polizei ermittelt nun gegen einen Internetnutzer wegen Morddrohungen.

Trotz aller Sorgen, die Blaes sich im Vorfeld machte, blieb die Gedenkfeier friedlich. Fast 1500 Trierer kamen, um sich mit Luftballons, Gesängen und Gebeten von dem Mädchen zu verabschieden. Ihr Gedenkstein soll errichtet werden "wenn da irgendwann mal Ordnung gemacht wurde", sagt der 26-Jährige.Die Stadt lässt den Müll liegen

Der Schotter des unbefestigten Wegs knirscht. Ein orangefarbener Kleintransporter fährt vor. Auf der Türe prangt das Wappen der Stadt Trier. Zwei Männer steigen aus, um die Müllsäcke mit den ausgebrannten Grabkerzen und welken Blumen zu entsorgen. Alle zwei Tage schauen sie nun vorbei. Den Müll jedoch, der sich vor der Halle türmt und das Gebüsch längs des Wegs verschandelt, lassen sie liegen. Wem das Gelände gehört, wissen die Männer nicht. Ein Anruf im Rathaus zeigt: Es gehört der Stadt. Warum lässt sie das Gelände so verwahrlosen? Warum räumt sie hier nicht auf? "Weil wir dafür die Mittel nicht haben", sagt Pressesprecher Hans-Günther Lanfer. Das koste unheimlich viel Geld.Angst geht um

Worte, die Toni Prison wütend machen. Der Maler hatte mit etwa 150 weiteren Menschen aus Trier-Nord dafür gesorgt, dass der Trauermarsch nicht auf einer Müllkippe endet. Fünf Tonnen Unrat entfernten die Freiwilligen mit Unterstützung des ART vom Tatort. "Wir haben das gleiche Recht auf Sauberkeit wie andere Stadtteile", findet Prison. In Trier-Nord zahle man genauso seine Steuern wie auf dem Petrisberg.

Rund um den Beutelweg ist es ruhiger geworden, seit die Menschen von der grausamen Tat wissen. In den Häusern, wo Opfer und mutmaßlicher Täter Tür an Tür lebten, sind die Rollläden heruntergelassen. Ein ungutes Gefühl hat sich breitgemacht. "Der größte Schock war, dass so etwas vor der eigenen Haustüre passieren kann", sagt Prison. Jugendliche müssen nun früher nach Hause kommen, man hat ein Auge auf die Nachbarskinder. Anwohner finden, dass in ihrem Teil der Stadt zu wenig für den Nachwuchs getan wird. Es gebe keinen Jugendtreff, nur einen kleinen Bolzplatz. Prison fordert, dass Familien, die sich keine Busfahrkarten für ihre Kinder leisten können, finanziell unterstützt werden. Dann hätte das Mädchen den unbeleuchteten Schotterweg vielleicht nicht genommen.

Ein Zug voll stummer Blicke rollt hoch oben über der Gedenkstätte auf dem Bahndamm vorbei. Aus der Ferne nähern sich Frauen mit Kopftuch und Kinderwagen. Vielleicht handelt es sich um Flüchtlinge, die zum nahe gelegenen Umsonstladen wollen. Auch sie betrachten die Kerzen und Blumen schweigend im Vorbeiziehen. "Die Asylanten" oder "die Ausländer" waren - wie zahlreiche Zitate und Facebook-Postings zeigten - nach der grausamen Tat für viele die Schuldigen Nummer eins, ehe sich dann herausstellte, dass die Polizei den Nachbarn verhaftet hat.

Marc Borkam, Leiter der Trierer Akademie für Sprachvermittlung und Integrationsförderung, liest in den Deutschkursen den Volksfreund, um anschließend mit seinen Schülern über das Stadtgeschehen zu diskutieren. Zu erfahren, wie reflexartig Ausländern die Schuld zugewiesen wurde, habe ihn und die Kursteilnehmer sehr betroffen gemacht, ja geradezu schockiert. Eine junge Muslimin berichtet zwar von kritischen Blicken, ein junger Mann aus Tunesien von menschlicher Kälte, die meisten jedoch haben bisher gute Erfahrungen mit den Trierern gesammelt. Dennoch beschlich sie nach den Vorkommnissen ein ungutes Gefühl. "Ich möchte mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn nicht so schnell ein Tatverdächtiger festgestellt worden wäre", sagt Borkam.

Wieder knirscht Schotter unter Autoreifen. Diesmal ist es ein roter BMW. Ein junger Mann steigt aus und geht, während der Motor weiterläuft, mit federnden Schritten zielstrebig auf das Herz aus Grabkerzen zu. Angekommen, breitet er die Arme aus, schließt die Augen und beginnt innig zu beten.

Er kannte beide flüchtig, das Mädchen und den mutmaßlichen Täter. Mit ihm hat er Fußball gespielt. Herzlich sei er gewesen, hätte freiwillig die Bälle geholt und keinen Stress gewollt, wenn ihn mal jemand schubste, sagt der junge Mann und schüttelt den Kopf. Am Tag nach der Tat habe sich der Mann noch ein Fußballspiel angesehen. "Das ist doch nicht normal", findet der junge Moslem, der überzeugt ist, dass jeder vor Gott seine gerechte Strafe bekommt. Und genauso fest glaubt er, dass das Mädchen, für das er mit ausgebreiteten Armen gebetet hat, auf direktem Weg ins Paradies gekommen ist.

Menschen wie diese werden dafür sorgen, dass Laura-Marie nicht in Vergessenheit gerät. Dass ihr Name den Trierern in Erinnerung bleibt, dass vielleicht eines Tages ein Gedenkstein für sie errichtet oder eine Straße nach ihr benannt wird, dass es Feiern für sie gibt, noch viele Jahre, nachdem der Wind aufgehört hat, die weißen Laken zu blähen, auf denen Familienangehörige und Freunde ihre letzten Grüße hinterlassen haben: Ruhe sanft. Wir werden Dich niemals vergessen.

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