Nationalsozialismus in der Region Die Taten des Trierer SS-Manns Karl Kirwald
„Lebenslange Zuchthausstrafe“ – so lautete das Urteil des Trierer Landgerichts gegen Karl Kirwald im Oktober 1950: Das ist die Geschichte eines der ersten und brutalsten NS-Schergen aus der Römerstadt - Ein Beitrag aus dem Buch „Nichts gehört der Vergangenheit an“ des Wittlicher Autors Franz-Josef Schmit.

Sophie Themers Bruder David starb Ende Februar 1945 im KZ Gusen, einem Außenlager von Mauthausen. Sie selbst musste bis zu ihrer Befreiung im April 1945 noch drei Arbeitslager durchleiden. Hinweis: Eine Aufnahme von Karl Kirwald war in keinem Archiv zu finden.
Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Martin SchuttDas Schwurgericht beim Landgericht Trier verurteilte am 15. Oktober 1950 den Trierer SS-Oberscharführer Karl Kirwald (Jg. 1910) zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe. Dieses Strafmaß erhielten weitere 165 Angeklagte in Westdeutschland, die sich wegen Gewaltverbrechen während der NS-Zeit vor Gericht verantworten mussten. Nach Kriegsende bis 2005 hatten Gerichte in den westlichen Besatzungszonen und auf dem Gebiet der Bundesrepublik in mehr als 37.000 Strafverfahren gegen etwa 173.000 namentlich bekannte Personen ermittelt.
Rechtskräftige Urteile ergingen jedoch bei weitem nicht gegen alle Angeklagten: Den 6.656 Verurteilungen standen 5.184 Freisprüche gegenüber; 2.853 Verfahren wurden wegen Tod, unbekanntem Aufenthaltsort, Amnestien, zu dünner Beweislage oder einer auch bei Gerichten erkennbaren „Schlussstrichmentalität“ vorzeitig eingestellt. Also: Kein Ruhmesblatt der bundesdeutschen Justiz, aber auch kein völliges Scheitern.
Auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz wurde gegen 2.635 Angeklagte ermittelt, von denen 677 verurteilt wurden. In zwei Fällen wurde die Höchststrafe verhängt. Einer der beiden „Lebenslänglichen“ war Karl Kirwald.
Kirwald gehörte wie auch sein Vater August zu den frühen NS-Propagandisten in Trier. Nach der Aufgabe des väterlichen Baugeschäfts trat Karl Kirwald im April 1928 der Partei bei und galt somit als „Altkämpfer“ (Mitgliedsnummer 80.981), ausgezeichnet mit dem Goldenen Ehrenabzeichen der NSDAP. Seit Dezember 1932 war er Mitglied der SS. Ab Frühjahr 1939 gehört er als SS-Unterscharführer zur SS-Totenkopfstandarte Dachau. In Trier arbeitete er zunächst beim Reichsbahnausbesserungswerk, dann bis Kriegsbeginn beim Hochbauamt der Stadt. Nach dem Polen-Feldzug folgte eine kurze Zeit im Lager Hinzert. Nächste Stationen waren das SS-Hauptamt für Bauwesen in Berlin und ab Oktober 1942 die zentrale Bauleitung des SS-Wirtschaftsamtes Krakau.
Hier leitete Kirwald den Aufbau eines SS-Truppen-Wirtschaftslagers mit rund 50 polnisch-jüdischen Zwangsarbeitern – darunter auch einige Frauen.
Kurz nach Kriegsende wurde Kirwald von der französischen Militärpolizei verhaftet unter dem Verdacht, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10) begangen zu haben. Nach zweijähriger Untersuchungshaft in Trier, Wittlich, Germersheim und Rastatt wurde das Verfahren eingestellt, was Kirwald selbst später als Beweis seiner Unschuld propagierte. In Wirklichkeit lagen Ermittlungs- und Verfahrensprobleme der französischen Militärjustiz zugrunde. Kirwald konnte im Sommer 1948 zu seiner Familie zurückkehren, die während des Krieges in Trier ausgebombt und nach Wintrich an der Mosel evakuiert worden war. Von der Spruchkammer Trier wurde er Anfang 1950 als „Belasteter“, der zweithöchsten Stufe bei der „Entnazifizierung“, eingestuft. Entscheidend für die Spruchkammer war Kirwalds Denunziation eines Zivilisten bei der Gestapo wegen angeblicher „Beleidigung der Reichsregierung“. Das Sondergericht verurteilte den Denunzierten zu sieben Monaten Gefängnis.
In einem Prozess in Bochum vom Herbst 1948, in dem ein früherer Polier der Hamburger Baufirma Göttemeyer wegen „Notzucht mit schwerer Körperverletzung“ zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt worden war, wurde auch die Geschädigte, die frühere jüdische Zwangsarbeiterin Sophie Themer, gehört. Nach Kriegsende war sie zunächst nach England emigriert, kehrte von dort zurück und erstattete, unterstützt von der Kölner Synagogengemeinde, Anzeige gegen Kirwald. Die frühere Kontoristin (Jg. 1905) im familieneigenen Textilgeschäft in Köln war in Kirwalds Krakauer Arbeitslager für Küchen- und Hausarbeiten zuständig. Ihr ebenfalls nach Polen verschleppter Bruder David (Jg. 1907) musste dort als Maschinist Zwangsarbeit leisten.
Kirwald hatte David wegen eines geringfügigen Vergehens mit Erhängen gedroht, wobei die Schwester diese Bestrafung mitansehen und sich anschließend selbst vergiften sollte. Nur durch das rechtzeitige Einschreiten des Oberpoliers Oldendorf, eines Reichsdeutschen, wurde das Angedrohte verhindert. Das wiederum versetzte Kirwald so in Rage, dass er die beiden Juden mit einer Reitpeitsche durch gezielte Schläge auf Rücken und Kopf erheblich verletzte. Wegen dieser Misshandlungen wurde Kirwald im Juni 1950 in Trier vor Gericht gestellt. Hier wurden weitere Poliere der ehemaligen Lagerbaustelle in Krakau als Zeugen herangezogen und erstmals wurden Vorwürfe gegen Kirwald erhoben, dass er auch für das Erhängen von Arbeitsjuden verantwortlich gewesen sei. Kirwald wurde noch im Gerichtssaal verhaftet.
In der zweitägigen Hauptverhandlung vom Oktober 1950 wurde gegen Kirwald verhandelt wegen des Verdachts von drei Mordtaten im Jahr 1943 während seiner Zeit als Lagerführer. Kirwald bestritt jegliche Beteiligung, es handele sich um eine Personenverwechselung und letztlich um eine Verschwörung der Zeugen gegen ihn. Vor allem aber: Zur Tatzeit sei er überhaupt nicht in Krakau, sondern zur Kur in Bad Nauheim gewesen. Sein früherer SS-Kamerad Winkel glaubte dies bestätigen zu müssen, was dem Gericht aber wenig glaubwürdig erschien. Dokumente aus dem Bundesarchiv Berlin belegen heute noch eindeutiger, dass Kirwald zum Zeitpunkt der Morde sehr wohl in Krakau war und erst Wochen später die Kur angetreten hatte. Von dem Verdacht, noch einen weiteren Juden erhängt zu haben, wird Kirwald indessen freigesprochen. Hier erschien die Beweislage nicht eindeutig.
Im Urteil findet sich folgende Zusammenfassung: „Im Februar 1943 erteilte der Angeklagte dem Juden Wechselmann, der als Vertrauensrat zwischen Zwangsarbeitern und Kirwald eingesetzt war, den Befehl, einen jüdischen Lagerinsassen namens Fallek zur Strafe für eine belanglose Verfehlung in einer Scheune zu erhängen. Um diesem Tötungsbefehl den nötigen Nachdruck zu verleihen, erklärte der Angeklagte dem Wechselmann, dass – falls Fallek nicht bis 14 Uhr mittags gehängt sei – fünf andere jüdische Insassen an seiner Stelle aufgehängt würden.“ Fallek versuchte zunächst zu fliehen, wurde jedoch bald von den völlig verzweifelten Juden ergriffen, deren Bitten für Fallek aber Kirwald nicht erweichen konnten. Nach Eintritt der Dunkelheit wurde Falleks Leiche abtransportiert, was auch von den Vorarbeitern der Baufirma beobachtet worden war, die bei der Erhängung Falleks nicht unmittelbar zugegen waren.
Zwei Wochen vor Pfingsten 1943 wurde der Jude Schlesinger an gleicher Stelle erhängt. Hier ist das direkte aktive Mitwirken Kirwalds eindeutiger erwiesen als im ersten Fall. Schlesinger wurde von Kirwald in die Scheune getrieben, wo bereits an einem Dachbalken ein Strick mit Schlinge vorbereitet war. Dazu ist im Urteil festgehalten: „Etwa zwei Meter unter diesem Querbalken lag ein weiterer Balken, an den eine Leiter gestellt war. Der Angeklagte befahl Schlesinger, die Leiter hinaufzusteigen, auf den ersten Balken zu klettern, seinen Hals in die Schlinge zu legen und alsdann abzuspringen.“ Schlesinger zögerte, woraufhin Kirwald ihn anbrüllte: „Mach´ voran, sonst schieße ich dich runter!“ In seiner Todesangst rief Schlesinger: „Du deutsches Schwein!“ Daraufhin schlug Kirwald mit seiner Peitsche derart gegen die Beine und nackten Füße Schlesingers, „dass diesem nichts anderes übrigblieb als abzuspringen.“ Kirwald hatte den deutschen Polieren gedroht, ihnen ginge es genauso, falls sie sich als „Judenfreunde“ aufspielen sollten.
Das Gericht stellte fest, Kirwald habe bei Fallek und Schlesinger „vorsätzlich und aus niedrigen Beweggründen“ sowie „mit Grausamkeit“ gehandelt, wobei er „aus eigenem Antrieb“ getötet habe. Kirwald habe seine Macht gegen völlig entrechtete Menschen ausgeübt und damit deren Menschenwürde und Recht auf Leben aufs Schwerste missachtet. Aufgrund der im BRD-Grundgesetz abgeschafften Todesstrafe erkennt das Gericht „für jeden der beiden Mordfälle auf lebenslanges Zuchthaus“. Kirwald kam ins Zuchthaus nach Diez. Über seinen Anwalt versuchte er eine Urteilsrevision im Jahr 1951 beim Bundesgerichtshof. Nach deren Ablehnung strebte Kirwald ein Jahr später eine Wiederaufnahme des Verfahrens an, die ebenfalls als unbegründet zurückgewiesen wurde.
Es folgen mehrere Gnadengesuche, gerichtet an Ministerpräsident Altmeier und Justizminister Becher, auch unterstützt von der „Stillen Hilfe“ in Person der Prinzessin von Isenburg, die sich früher schon für „Kriegsverurteilte“ im Wittlicher Gefängnis eingesetzt hatte. Kirwald sei als „politischer Gefangener“ zu betrachten und umgehend freizulassen, nachdem der letzte Wittlicher Häftling entlassen sei. In der Ablehnung verweist die Staatskanzlei in Mainz darauf, dass Kirwald – im Gegensatz zu den in Wittlich Inhaftierten – von einem deutschen Gericht und nach deutschem Prozessrecht verurteilt worden war. Die Ablehnung der Gnadengesuche Kirwalds, seiner Frau und seines Bruders erfolgte auch, weil Kirwald sich nach wie vor ohne jede Schuldeinsicht zeigte. Im Gnadengesuch von 1955 sieht der Justizminister etwas Bemerkenswertes: Anscheinend bekenne sich Kirwald erstmals überhaupt zu seinen Taten, weil er sich auf einen „Befehlsnotstand“ berufe. Dagegen hält der Justizminister fest, Kirwald habe erwiesenermaßen „aus eigener Machtvollkommenheit“ gehandelt. Drei Jahre später spricht Kirwald erstmals von seiner „politischen Verblendung“, durch die er „schwere Schuld auf sein Gewissen geladen habe“. Vom Leid der Opfer und deren Familien findet sich bei Kirwald selbst kein Wort, während sowohl er als auch seine Frau sogar in einem Schreiben an Bundeskanzler Adenauer das Elend seiner Familie in aller Anschaulichkeit darlegten.
Am 1. April 1960 endet das Leben Kirwalds. Ob an Herzversagen oder durch Suizid gestorben, bleibt unklar. Zu beiden Möglichkeiten gibt es Hinweise in den Akten. Sophie Themers Bruder David starb Ende Februar 1945 im KZ Gusen, einem Außenlager von Mauthausen. Sie selbst musste bis zu ihrer Befreiung im April 1945 noch drei Arbeitslager durchleiden. Nach der Datenbank von Yad Vashem hat Sophie rund 30 Menschen aus ihrer Familie – darunter auch ihre Mutter – im Holocaust verloren. In New York arbeitete sie als Hausmädchen bis zu ihrer Rückkehr nach Köln im Sommer 1958. Dort starb sie 1971.
Infos: Franz-Josef Schmit: „Nichts gehört der Vergangenheit an“, Rhein-Mosel-Verlag, 360 Seiten, Hardcover, Fadenbindung, 29,50 Euro