Triers 2700 Problemkinder

Trier · Sie haben einen geringeren Bildungsstand als ihre Eltern, erleben frühzeitig und häufig Gewalt und besuchen selten Einrichtungen, die ihnen helfen wollen: benachteiligte Jugendliche in Trier. Der Sozialwissenschaftler Waldemar Vogelgesang von der Uni Trier schätzt, dass 2700 junge Menschen in Trier betroffen sind.

Trier. Als "nachwachsende Armut" bezeichnet Universitätsprofessor Waldemar Vogelgesang die benachteiligten Jugendlichen in der Stadt Trier. Bis zu 2700 der insgesamt 18 000 Jungen und Mädchen zwischen 14 und 25 Jahren leben nach Angaben des Soziologen im Vergleich zu ihren Altersgenossen in unsicheren und schwierigen Lebensverhältnissen (siehe Extra). 219 junge Menschen, die in Fördermaßnahmen des Arbeitsamts stecken und beispielsweise dort ihren Hauptschulabschluss nachholen, hat Vogelgesang einen Katalog an Fragen gestellt.
"Wir hatten ursprünglich 440 Jugendliche angesprochen. Die Hälfte hat aber die Teilnahme verweigert, was für mich Ausdruck einer Null-Bock-Mentalität ist." Die Ergebnisse, die Vogelgesang aus den Befragungen hochgerechnet hat, sind alarmierend.Schlechtere Bildung als Eltern


In seiner aktuellen Studie hat er es sich zum Ziel gemacht, die Gründe und Formen der Benachteiligung herauszufinden - mit überraschenden Ergebnissen, wie auch Sozialdezernentin Angelika Birk einräumt. "Mich schockt, dass die Eltern gebildeter sind als ihre Kinder", sagte Birk bei Vogelgesangs Präsentation der Studienergebnisse vor dem Jugendhilfeausschuss der Stadt, "was machen die Schulen und Erziehungseinrichtungen falsch?"
Vogelgesang hatte in seiner Befragung festgestellt, dass die meisten benachteiligten Jugendlichen ein schlechteres Bildungsniveau als ihre Eltern erreichen. Auffallend sei die abwertende Haltung der Befragten gegenüber Bildung.
"Die Qualifikation durch Selbstbildung, zum Beispiel indem man ein Buch liest, ist ihnen fremd", sagt Vogelgesang, "Alles, was sie machen, muss sich für sie monetär auszahlen." Auch die Bindung zu den Eltern sei bei unzähligen Jugendlichen bereits frühzeitig abgerissen, weshalb sie die meiste Zeit in ihrer Clique verbrächten - die ihr abweichendes Verhalten meist noch verstärke. "Außerdem ist der Besuch von Jugendeinrichtungen rückläufig", stellt der Soziologe fest. Viele Jugendliche störe an den Einrichtungen, dass dort sowohl zehnjährige Kinder als auch ältere Jugendliche gleichzeitig betreut würden
. "Das stimmt", sagt Dirk Mentrop, Jugendsozialarbeiter im offenen Jugendtreff im Exhaus in Trier-Nord. "Die Bedeutung des Jugendtreffs hat insofern etwas verloren, als dass man früher dort hingehen musste, um zu wissen, was abgeht. Heute klären die Jugendlichen das vermehrt über Handy und Facebook." Im Durchschnitt kämen 25 Jugendliche pro Tag in den offenen Jugendtreff. Die Besuchergruppe habe sich aber stark verjüngt, weshalb man mit dem Angebot den älteren Jugendlichen kaum mehr gerecht werde.
"Trotzdem sind Jugendeinrichtungen unverzichtbar", sagt Vogelgesang, "sonst verliert man auch noch den Kontakt zu den elf Prozent der Problemkinder, die dort hingehen." Das Angebot müsse aber für die verschiedenen Altersgruppen weiter differenziert werden. Wenn es nach Mentrop ginge, könnten Jugendzentren noch viel mehr leisten: "Wir sagen: Offene Jugendarbeit ist Prophylaxe. Wenn die Politik uns eine Millionen Euro mehr zur Verfügung stellen würde, könnte sie diese Summe später bei der stationären Jugendarbeit wie Heimunterbringung einsparen." Aber so langfristig würden Politiker nicht denken, meint Mentrop.
Darüber hinaus rät der Soziologe Vogelgesang dazu, einen Hilfsverbund für Familien und ganze Stadtteilmilieus zu organisieren, um die fehlende Unterstützung der Jugendlichen im Elternhaus auszugleichen. "Wir brauchen Beratung und Coaching durch Jugend- und Familienzentren, die sozialraumorientiert arbeiten." Das hieße, bereits präventiv mit gefährdeten Familien im Quartier zusammenzuarbeiten, bevor es zu spät sei.
Darüber hinaus hat er die sozialen Brennpunkte der Stadt kartiert, indem er Arbeitslosenrate, Anzahl der Sozialhilfeempfänger und die häufigste untere Einkommensgrenze ausgewertet hat: Biewer, Ehrang, Neu-Kürenz, Mariahof, Pallien, Trier-Nord und Trier-West erklärt der Soziologe zu den Stadtteilen mit dem tiefsten Sozialstatus und damit zu Risikobezirken für Jugendliche.
"Am Schluss sind es aber viele Faktoren der Benachteiligung", so Vogelgesang, "die sich aufaddieren und die jungen Menschen am Ende in der Misere enden lassen."Meinung

Pädagogen gefragt
Vogelgesangs Studie zeigt, dass es in Trier viele Eltern gibt, denen es materiell nicht gutgeht und die mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Das Ergebnis sind emotional unterversorgte Kinder mit Lernschwäche. Ihnen fehlt schon früh die Voraussetzung, die notwendige Leistungsfähigkeit zu entwickeln, um sich für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Auch in den Schulen scheinen sie nicht das zu lernen, was sie lernen müssten. Es gibt nur eine Lösung des Problems, zu der viele sagen: "Unbezahlbar!"Um die Jungen und Mädchen ohne Chance schon frühzeitig zu fördern, müssten sowohl Jugend- und Familienzentren als auch Kindergärten und Schulen einen erweiterten Bildungsauftrag bekommen. Insbesondere in den Schulen mit den Kindern abfragbare Leistung zu trainieren, genügt nicht mehr. Sie brauchen Pädagogen, die ihre Erziehung in die Hand nehmen - die ihnen ihre Eltern, denen es meist auch an Bildung und Perspektive fehlt, nicht bieten können. c.moeris@volksfreund.deExtra

Die Benachteiligung der schätzungsweise 2700 Jugendlichen in Trier wird nach dem Soziologen Vogelgesang durch mehrere Faktoren verursacht: ungebildete Eltern, ein negatives Umfeld im Stadtteil und frühe Gewalterfahrungen. Diese schlechten Voraussetzungen führen nach Vogelgesang bei Jugendlichen letztlich zu einem Bündel an Problemen: Sie schaffen keinen guten Schulabschluss und übernehmen keine Eigenverantwortung. Außerdem sind sie leicht reizbar und üben Gewalt aus, um sich Anerkennung zu verschaffen. Zudem fehlt ihnen ein politisches Interesse. Auch die Sozialkompetenz dieser Jugendlichen ist mangelhaft, sie leiden unter einem minimalen Selbstwertgefühl und sind unzufrieden, erklärt der Sozialwissenschaftler. cmo Extra

Was halten Jugendliche von den Aufenthalts- und Fördermöglichkeiten, die ihnen angeboten werden? Der TV hat sich in Trier umgehört und Jugendliche vor dem Trierer Hauptbahnhof befragt. Silvana (15) aus Trier-Nord, Realschülerin: "Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, in einen Jugendtreff zu gehen - da habe ich Besseres zu tun. Ich treffe mich mit meinen Freunden immer am Bahnhof, im Palastgarten oder in der Trier-Galerie. Wir chillen dann, rauchen Zigaretten und unterhalten uns. Meine Hobbys sind schlafen und Freunde treffen. Bücher lese ich gar nicht, weil ich nicht gut lesen kann - da habe ich keinen Bock drauf." Hans-Peter (18) aus Neu-Kürenz: "Ich habe keinen Schulabschluss und auch keine Arbeit - ich gammel mich durch. Jugendtreffs sind uncool, weil da kein Alkohol ausgeschenkt wird. Die Pädagogen da machen einen auf Schnösel und tun so, als ob sie alles wüssten - das geht mir auf die Nerven. Das Positive an Jugendzentren ist vielleicht, dass sie einige Jugendliche weg von der Straße bringen, wo man im Monat schon zwei bis drei Schlägereien erlebt." cmo Christian (24) aus Neu-Kürenz: "Ich arbeite manchmal als Metallbauer bei einer Leiharbeitsfirma. Früher bin ich oft im Haus der Offenen Tür des Don-Bosco-Hauses in Trier-West Fußball spielen gegangen. Wenn da noch welche in meinem Alter wären, würde ich da vielleicht auch ab und zu mal hingehen. Mittlerweile sind da aber mehr Neun- oder Zehnjährige." cmo

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