Unvergessliche Aktion: Hilfe aus den Alpen im Kampf gegen Hunger und Elend

Trier · Unvergesslich für diejenigen, die es erlebt haben: In den Nachkriegsjahren 1946/48 sorgte die Hilfsaktion Schweizer Spende maßgeblich dafür, dass Trierer Kinder etwas zu essen bekamen. Im Schweizer Dorf auf dem Augustinerhof wurden mehr als eine Million Mahlzeiten ausgegeben.

Christel Schäfer, geborene Martin, wird bald 77 und kann sich noch "sehr gut erinnern" an das, was sie als Sechsjährige erlebte: "Wir sind von unserer Herz-Jesu-Schule in Schlangen zum Schweizer Dorf gegangen. Dort mussten wir uns erst einmal anstellen, weil auch Kinder von anderen Schulen dort warteten. Aber wir haben sehr geduldig und mit großer Vorfreunde gewartet, denn das Warten wurde mit leckerem Essen belohnt."

Für viele Kinder ist das, wofür sie anstehen, die erste und oft auch einzige nennenswerte Mahlzeit des Tages. Es regiert der Hunger. Im Frühjahr 1946 muss der erwachsene Trierer mit 880 Kalorien pro Tag auskommen - etwa ein Drittel des normalen Mindestbedarfs.

Aber normal ist längst nichts mehr in Trier. Die Innenstadt ist seit den schweren Kriegszerstörungen immer noch ein großer Trümmerhaufen, und monatlich kommen Hunderte Menschen aus Evakuierung, Flucht oder Gefangenschaft zurück.

Stiller Protest gegen die katastrophale Versorgungslage nach dem ersten Winter unter der französischen Besatzung: Auf der Ruine der Konstantin-Basilika weht im März 1946 eine schwarze Hungerflagge mit Totenkopf.

Eine Milliarde an Spenden

Hilfe kommt aus der Schweiz. In der neutralen Alpenrepublik ist die Solidarität mit den notleidenden Kindern des kriegsgeschundenen Europa sehr groß. Die Eidgenossen geben nicht nur Geld - binnen vier Jahren umgerechnet fast eine Milliarde Euro - und Lebensmittel. Sie entsenden auch Tausende Hilfskräfte plus Gerätschaften in insgesamt 18 Staaten.

Die Schweizer Spende, so die offizielle Bezeichnung, erreicht Trier im April 1946. Ein fünfköpfiges Team ("Equipe") plant den Bau eines Versorgungszentrums auf dem Augustinerhof, der erst noch vom Kriegsschutt befreit werden muss. 80 besonders bedürftige Kinder finden für drei Monate Aufnahme bei Schweizer Familien.

Auf dem heutigen Rathausvorplatz entstehen vier Baracken aus Material, das per Zug aus der Schweiz geliefert wird. Die ebenfalls von dort kommenden Lebensmittel werden gleich nebenan im Hochbunker gelagert.

Am 27. Mai beginnt im Schweizer Dorf die Speisung für täglich bis zu 2300 Kinder. Koch Willi Halfar und die Küchenmannschaft, allesamt Einheimische, verrichten Schwerarbeit. Monatlich werden fast 40.000 Essensportionen benötigt. Im Stadtgebiet befinden sich 13 weitere Ausgabestellen, meist in Stadtteilschulen.

So und mit flankierender Unterstützung durch die Caritas und amerikanische Care-Pakete kommen Triers Kinder durch den extrem harten Hungerwinter 1947. Insgesamt werden binnen zwei Jahren im Schweizer Dorf mehr als eine Million Essensportionen ausgegeben.

Das Schweizer Dorf dient aber nicht nur der Massenspeisung Sechs- bis 14-Jähriger. Eine Näh-, Flick- und Strickstube bietet Hilfe zur Selbsthilfe. Es gibt eine Schuhreparaturstätte und einen Kindergarten. Die Kleinkinder, die dort jeweils sechs Wochen lang betreut und aufgepäppelt werden, legen bis zu zwei Kilo an Gewicht zu. Die Schweizer Spende kommt auch Säuglingen zugute: Für jedes Baby gibt es ein Paket mit Wäsche, Windeln, Fläschchen und Nahrungsmitteln. Die Gesamtzahl der betreuten Neugeborenen beträgt 2072 von August 1946 bis Ende Juni 1948.

Dann endet die Hilfe der Schweizer in Trier. Die Baracken bleiben als Geschenk an Trier zurück. Sie werden genutzt von der Caritas, die das Hilfsprojekt in kleinerem Rahmen fortführt, und als Unterkunft für Jugendgruppen. Eine der Baracken dient später im Ruwertal als Landheim für Pfadfinder, erinnert sich der Trierer Günther Molz (85).

Zur Würdigung des wichtigen Kapitels Trierer Nachkriegsgeschichte hält Stadtarchiv-Leiter Bernhard Simon (60) am Sonntag beim Verein Trierisch den Festvortrag zur Jahrbuchvorstellung über das Schweizer Dorf (siehe Extra).

Vielleicht gibt das 70-Jahre-Jubiläum auch Anlass, eine Idee von 1996/97 aufzugreifen: Damals liebäugelte der Stadtvorstand mit einer Gedenkplakette am Augustinerhof. Taten folgten bislang nicht.Extra Vortrag über das Schweizer Dorf

 1946 kurz nach der Fertigstellung: drei der vier Baracken des Schweizer Dorfs auf dem Trierer Augustinerhof gleich neben dem Hochbunker.

1946 kurz nach der Fertigstellung: drei der vier Baracken des Schweizer Dorfs auf dem Trierer Augustinerhof gleich neben dem Hochbunker.

Foto: Stadtarchiv Trier
 Warten auf das Essen - da bleibt wegen des großen Andrangs am Trierer Augustinerhof noch Zeit für ein Gruppenbild von Schulkindern und ihren Lehrerinnen.

Warten auf das Essen - da bleibt wegen des großen Andrangs am Trierer Augustinerhof noch Zeit für ein Gruppenbild von Schulkindern und ihren Lehrerinnen.

Foto: Stadtarchiv Trier

Die Schweizer Hilfe für Nachkriegs-Trier ist auch Thema bei der Vorstellung des Neuen Trierischen Jahrbuchs (NTJ) des Vereins Trierisch morgen, Sonntag, 17 Uhr, im Kurfürstlichen Palais (Rokokosaal). Bernhard Simon, Leiter des Stadtarchivs, hält den Festvortrag "Das Schweizer Dorf in Trier. Zur Erinnerung an die Schweizer Hilfe für notleidende Kinder vor 70 Jahren".

Die NTJ-Ausgabe 2016 enthält 21 Beiträge zu bislang eher unbekannten Aspekten der Stadtgeschichte. So untersucht TV-Mitarbeiter Manuel Beh die Einflüsse der Hitlerjugend und der nationalsozialistischen Ideologie auf das Hindenburg-Gymnasium, Hiltrud Holzberger beschreibt die lange Firmengeschichte der Konditorei Raab, und Thomas Holkenbrink unternimmt einen philatelistischen Spaziergang durch Trier. Musikalisch umrahmt wird die öffentliche Veranstaltung vom Madrigalchor Trier (Leitung Klaus Fischbach). rm.

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