Von sprechenden Mülleimern und Atomausstieg

Trierweiler · "Pressekonferenz!" ruft Ergotherapeutin Helga Etteldorf einem älteren Herrn zu. Eine Dame mit Rollator ist schon auf dem Weg, aus dem dritten Stock müssen noch die Rollstuhlfahrer abgeholt werden. Es ist 14.30 Uhr, Zeit für die wöchentliche Diskussionsrunde in der Seniorenresidenz Niederweiler Hof in Trierweiler.

Trierweiler. Gemächlich geht Hans Josef Barth die Treppe zum ersten Stock hinauf. "Hier gehen die Uhren etwas langsamer", sagt der 79-Jährige, während er die Reporterin durch die Seniorenresidenz führt. Die Treppe führt durch die Mitte einer großen Halle, von der die Flure mit den Bewohnerzimmern abzweigen. Man kann von jedem Stockwerk ins Erdgeschoss schauen, das herbstlich dekoriert ist. An Tischen in der Halle sitzen die Bewohner bei Kaffee und Kuchen.
Kommentare in eigener Zeitschrift



Hans Josef Barth lebt mit seiner Frau seit einem Jahr in der Seniorenresidenz und ist Stammgast der sogenannten Pressekonferenz. Ergotherapeutin Helga Etteldorf liest jede Woche Nachrichten aus der Region vor, über die die Senioren dann diskutieren. Hans Josef Barth setzt sich auf ein Sofa in der Sitzecke, nach und nach kommen immer mehr Senioren. Der Kreis ist groß, Rollstühle und Rollatoren werden vor und zurückgeschoben. Schließlich schlägt Helga Etteldorf die Zeitung auf. Die Pressekonferenz beginnt. "In der Prümer Innenstadt ist am Montagnachmittag ein Säugling gefunden worden", liest sie mit lauter Stimme vor. Eine ältere Dame im Rollstuhl schließt die Augen und seufzt. Eine andere fragt sich, warum die Mutter das Kind ausgesetzt hat. Eine dritte sagt: "Wenigstens hat sie es nicht umgebracht".
"Ein fester Kern von zehn Leuten kommt eigentlich immer", sagt Therapeutin Etteldorf. Viele von ihnen können nicht mehr selbst lesen und sind froh, dass die Therapeutin sie auf den neusten Stand bringt.
Als nächstes liest sie einen Artikel über einen 45-jährigen Mann vor, der mit seinem Auto in die Mosel geraten und ertrunken ist. "Oh weh!", sagt eine Frau. Ein Mann ruft von hinten, dass der Autofahrer betrunken gewesen sein müsse. "Oder vielleicht hat er die Handbremse nicht angezogen", mutmaßt ein anderer.
"Ich wähle die Themen vorher aus", erzählt Etteldorf. Besonders das, was in der Region passiert, interessiere die Teilnehmer der Pressekonferenz. "Aber auch die Themen Kirche und Gesundheit haben wir oft", sagt sie. Vor einigen Monaten gab es heftige Diskussionen über den Atomausstieg, auch die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sorgten für erhitzte Gemüter. "Politik und Religion sorgen immer für Debatten", sagt auch Hans Josef Barth. Für den 79-Jährigen ist die Pressekonferenz eine willkommene Ablenkung. "Freizeit haben wir hier ja reichlich", sagt er, "deshalb muss man sich beschäftigen." Er selbst schreibt Gedichte und Erzählungen, er malt, zeichnet und spielt Akkordeon.
Am Ende der Pressekonferenz liest Etteldorf einen Text auf der "Aus aller Welt"-Seite vor: "Sprechende und singende Mülleimer sollen in London dafür sorgen, dass Touristen und Einheimische ihren Müll nicht einfach fallen lassen." Die Bewohner lachen. "Und für so was wird Geld ausgegeben", ereifert sich ein älterer Herr. Zwei Frauen diskutieren darüber, dass das bestimmt mit den bevorstehenden Olympischen Spielen zu tun hat.
Die Bewohner kommentieren das Geschehen nicht nur während der Pressekonferenz, sondern veröffentlichen ihre Kommentare auch in der mehrmals im Jahr erscheinenden Zeitschrift "Hofbote". "Es gibt Selbstwertgefühl, wenn man etwas zu sagen hat", sagt Etteldorf. Dann greift sie zum Telefonhörer und ruft nacheinander zwei Kolleginnen an: "Die Bewohner können jetzt von der Pressekonferenz abgeholt werden." Die "Pressekonferenz" wird von einer Ergotherapeutin geleitet. Laut Definition des Deutschen Verbands der Ergotherapeuten sollen mit dieser Therapieform Menschen unterstützt werden, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von Einschränkung bedroht sind. In der Seniorenresidenz Niederweiler Hof gibt es etwa eine Gruppe zur Sturzprävention, gemeinsames Gedächtnistraining, eine Entspannungsgruppe und Spielenachmittage, zu denen Kinder aus der benachbarten Grundschule kommen. mem

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