Wenn die Menschen keine Gesichter mehr haben: Ein Vormittag als blinder Mensch in der Trierer Innenstadt

Trier · Nicht sehen zu können - für die meisten von uns ist das unvorstellbar. In Deutschland leben ungefähr 150 000 blinde Menschen. Mit Hilfe einer verdunkelten Brille ist unsere Reporterin einen Vormittag lang blind gewesen, um herauszufinden, wie sich diese Menschen fühlen.

Trier. Mal eben in den Supermarkt gehen und ein Stück Butter kaufen. Mal eben mit dem Auto zur besten Freundin fahren. Mal eben das Lächeln des Partners sehen. Das alles ist für blinde Menschen nicht möglich.

Auch für Marion Palm-Stalp sind diese Dinge eine Herausforderung. Seit sie 22 ist, leidet sie an Morbus Stargardt, einer seltenen Netzhauterkrankung. In der Mitte ihres Sehfelds verdeckt ein schwarzer Fleck alles. Nur am Rand kann sie schemenhaft noch etwas erkennen. So wie ihr geht es den meisten blinden Menschen: nur die wenigsten sind absolut blind. Allerdings macht das Gesetz einen Unterschied zwischen blind und sehbehindert: Ein Mensch ist sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille nicht mehr als 30 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. Ein Mensch ist blind, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille nicht mehr als zwei Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt.
Marion Palm-Stalp wird mich heute bei meinem Rundgang durch die Stadt begleiten.

Augenoptikermeister Ralph Raltschitsch fertigt mir eine Brille an, die diese Blindheit genau simuliert: In der Mitte der Brille gibt es schwarze Felder, durch die ich nichts sehen kann. Am Rand etwas durchlässigere Folie, durch die ich noch schemenhaft sehen kann.

Ich setze die Brille auf und plötzlich bin ich blind. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf mein Gehör zu verlassen und darauf, was ich an den Rändern meines Sehfeldes noch wahrnehmen kann. Glücklicherweise sind Marion Palm-Stalp und Blindenhündin Bella an meiner Seite. Außerdem drückt sie mir einen Langstock in die Hand, den ich stetig vor mir herbewegen soll. Durch die Rolle vorne am Stock höre ich genau, auf welchem Bodenbelag ich gerade gehe. So kann ich beispielweise ertasten, wo der Gehweg aufhört und die Straße anfängt, erklärt mir meine Begleiterin. Leider bleibe ich in den Fugen des Pflasters, in Kanaldeckeln und in aufgerissenem Asphalt oft stecken, so dass ich mir den Stock fast in den Bauch ramme.In ständiger Alarmbereitschaft


Wir gehen direkt in das Gewühl der Fußgängerzone. Glücklicherweise weichen mir die entgegenkommenden Menschen aus, sodass es nicht zu Kollisionen kommt. Trotzdem habe ich ständig Angst, irgendwo anzuecken. Den silberfarbenen Mülleimer, der sich farblich kaum vom Asphalt abhebt, bemerke ich erst im letzten Moment. Mein Körper ist in ständiger Alarmbereitschaft. Wir machen uns auf den Weg zum Wochenmarkt. Meine Schritte sind deutlich langsamer und kleiner als sonst. Marion Palm-Stalp erzählt mir von ihrer Diagnose: "Ich war gerade schwanger, als ich die endgültige Diagnose bekam. Der Arzt meinte, dass ich mein Kind wohl nicht mehr richtig sehen werden könne." Mich überkommt Beklommenheit. Ich bin froh, dass ich bald wieder meine "Blinden-Brille" ausziehen kann. Aber ich kann mir nun vorstellen, wie schlimm es sein muss, wenn man keine Gesichter mehr erkennen kann. Keine Gestik, keine Mimik. Emotionen sind nur schwer greifbar. Und das Gegenüber weiß nicht, dass man nicht sehen kann. Zwangsläufig muss der blinde Mensch seine Behinderung erklären, was immer Überwindung kostet. "Einmal im Café wollte ein Mann mit mir flirten. Ich habe natürlich nicht gemerkt, dass er mich anschaut, bis er mich ansprach. Da habe ich nur gemeint, dass ich glücklich verheiratet bin und Kinder habe", erzählt Palm-Stalp.Alles sieht gleich aus


Wir sind auf dem Markt angekommen. "Vor welchem Stand stehen wir nun", fragt mich meine Begleiterin. Braune und gelbliche Farben vermischen sich. Ich kann nur raten. Ein bisschen hilft mir mein Geruchssinn: Es muss sich um Backwaren handeln. Die Brötchensorten kann ich nicht auseinanderhalten. Geschweige denn die Preisschildchen lesen. Die Brote hinten in der Auslage kann ich gar nicht erkennen. Weiter geht's zum nächsten Stand. Das ist einfacher. Der intensive Geruch macht klar: Das muss eine Käsetheke sein. Beim Gemüsestand wird's da schon schwieriger. Ist das ein Eisbergsalat oder ein Kohlkopf? Da hilft nur: anfassen und ertasten. Am Antipasti-Stand hingegen bin ich ganz verloren. Hier kann ich gerade so die Brotaufstriche von den Oliven unterscheiden.

Immer wieder muss ich aufpassen, dass ich nicht über einen Werbeaufsteller stolpere. "An Orten, wo man sich auskennt, geht es eigentlich. Zum Beispiel gehe ich meistens in den gleichen Supermarkt. Aber der wurde neulich umgeräumt. Da wurde es dann schon schwieriger", sagt Marion Palm-Stalp.

Wir setzen unsere Einkaufstour fort. In einem Schuhgeschäft möchte ich meine Größe finden. Ich kann nur schätzen, denn die Nummer auf der Sohle oder das Etikett im Schuhinneren kann ich nicht erkennen. Marion Palm-Stalp gibt mir ihre Lupe mit zwölffacher Vergrößerung. Mehr Vergrößerung geht nicht. Man muss ganz nah an die Buchstaben herangehen, um etwas lesen zu können. So kann ich auch das Größenetikett am Schuh entziffern. "Glücklicherweise helfen mir meist die Verkäufer weiter", meint sie. Für mich wäre es eine Überwindung, um Hilfe bitten zu müssen. Aber einem blinden Menschen bleibt oft nichts anderes übrig.Schnell orientierungslos


Ich bewundere Marion Palm-Stalp dafür, dass sie so selbstbewusst ist. Sie meint: "Ich versuche, so viele Dinge wie möglich alleine zu machen. Im Urlaub klettere ich dann schon mal auf Felsen. Es geht eben alles nur ein bisschen langsamer." Um in die nächste Etage des Einkaufszentrums zu kommen, müssen wir mit dem Fahrstuhl fahren. Wieder eine Herausforderung. Ich kann die Tasten für die Stockwerke ertasten. Aber ich weiß nicht, welches Stockwerk ich drücken muss. Es gibt keine Ansage im Fahrstuhl. So werde ich schnell orientierungslos. Da hilft nur, die mitfahrenden Leute zu fragen.

Im richtigen Stockwerk angekommen, setzten wir unsere Shoppingtour fort. Im Modegeschäft geht es mir ähnlich wie auf dem Wochenmarkt: Die Stoffhose und die Bluse kann ich nur durch Ertasten unterscheiden. Im Drogeriemarkt sehen fast alle Nagellackfläschchen gleich aus. Nach ein paar Geschäften bin ich schon erschöpft. Es ist anstrengend, ständig aufpassen zu müssen, nirgends anzuecken. Außerdem ist es frustrierend, nicht direkt erkennen zu können, was man gerne kaufen möchte. Alles dauert länger.

An einer Straße müssen wir eine Straße überqueren. Eigentlich soll der Schalter an der Ampel vibrieren, wenn es grün ist. Aber er funktioniert heute nicht. Wenigstens gibt es akustische Signale: Die Ampel macht ein klackendes Geräusch, wenn sie rot zeigt. Wenn sie grün ist, tutet es. Ansonsten würde es gefährlich werden. Dennoch gibt es noch sehr viele Ampeln, die überhaupt keine Signale aussenden. Oft gibt es auch gar keine Ampel. Da bleibt dem blinden Menschen nur übrig zu hoffen, dass er nicht von einem Auto übersehen wird. Oder er muss um Hilfe fragen, einen Umweg in Kauf nehmen oder sich auf sein Gehör verlassen. In solchen Situationen ist Marion Palm-Stalp besonders froh, dass sie Blindenhündin Bella hat.

Unsere letzte Station ist die Bushaltestelle. Mein Auto muss ich nämlich im Parkhaus stehen lassen. Marion Palm-Stalp schmerzt der Verlust dieser Art von Mobilität noch heute: "Ich hatte damals ein Cabrio. Das haben wir noch heute, aber ich kann es nicht fahren. Wenn mein Mann mit mir das erste Mal im Sommer fährt, treibt es mir jedes Mal die Tränen in die Augen." Der Bus ist also das Verkehrsmittel der ersten Wahl. Aber auch das ist nicht so einfach. Ich kann den Fahrplan nicht erkennen. Die Buslinie erkenne ich auch nur, wenn der Bus schon so nah ist, dass er an mir vorbeifährt. Da hilft nur fragen. Als ich die richtige Buslinie gefunden habe, ist das Experiment zu Ende.

Ich darf die verdunkelte Brille ausziehen. Ich bin von der Anstrengung müde und das helle Licht blendet mich. Aber ich bin froh, wieder richtig sehen zu können. Das weiß ich nun umso mehr zu schätzen. Gleichzeitig habe ich großen Respekt vor nicht sehenden Menschen, die ihren Alltag trotz der Einschränkungen gut meistern und ihre Lebensfreude nicht verlieren.

An das Experiment werde ich mich noch oft erinnern: Wenn ich an einem Mülleimer vorbeigehe, dem ich leicht ausweichen kann, weil ich ihn sehe. Wenn ich ein Eis kaufe und sofort das Stracciatella-Eis ausmachen kann, weil ich sehe. Oder wenn ich mich mal eben in mein Auto setze, um zum nächsten zu Supermarkt fahren. All das ist Alltag, aber lange keine Selbstverständlichkeit, wenn man eben nicht sehen kann.Extra

Pro Retina ist eine Selbsthilfevereinigung für Menschen mit Netzhautdegenerationen. Marion Palm-Stalp ist Leiterin der Regionalgruppe Trier. Sie berät über Krankheitsbilder und Hilfsmittel. Außerdem gibt es regelmäßige Treffen und gemeinsame Aktivitäten, wie Kegeln und der Besuch von Kulturveranstaltungen. Weitere Informationen: www.pro-retina.de jwa

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