Wie die Fütterung der Seelöwen

TRIER. Rosenmontagszug - das bedeutet in der Regel, dass man auf der Straße steht und den Umzug beobachtet. Aber auch der Blick in umgekehrter Richtung, in diesem Fall vom Heuschreck-Prunkwagen, ist durchaus reizvoll.

Wenn dasgeneigte Publikum noch schläft oder frühstückt, beginnt für dieAktiven ein stressiger Tag. Tonnen von Wurfmaterial und Proviantwollen beigeschleppt werden. Wer einen feucht-fröhlichen Umzug feiern will, hat auf den Wagen den denkbar schlechtesten Platz ausgesucht. "Vorsicht beim Trinken!", wird der Neuling von den Profis gewarnt, nicht etwa wegen möglicher Kollisionen zwischen dem Promillewert und den Aufgaben als Bonbon-Werfer. Der Grund ist viel schnöder: Auf dem Wagen fehlt eine Toilette, runter kommt man während des Zugs nicht, und Bier entwickelt bekanntermaßen eine gewisse Eigendynamik. Veteranen der Szene sind mit Geschichten schnell zur Hand, wie sie dermaleinst in größter Not die eigenen Stiefel... - man muss gar nicht weiter zuhören, um den Verlockungen des Alkohols mit angemessener Skepsis gegenüber zu stehen.

Geduld ist gefragt

Wer später die prächtigen Kostüme auf den Wagen bewundert, weiß zum Glück nicht, wie es darunter aussieht. Männer in Strumpfhosen und knöchellangen Wollschlüpfern (die ganz Vorsichtigen kombinieren sogar beides) bevölkern die Umkleidekabinen, bevor es zur Aufstellung in Trier-Süd geht.

Geduld ist gefragt. Eine Stunde bis zum Zugstart, eine weitere, bis auch der letzte Wagen los fährt, noch eine halbe, bis man den ersten Zuschauer erblickt. Am Bahndamm stehen derweil aufgereiht zehn Mexikaner in gelben Ponchos, um sich zu erleichtern. Was mögen wohl die Reisenden des Zugs nach Wasserbillig denken, die gerade die Frontseite dieses erhebenden Anblicks genießen dürfen?

Endlich naht der erste Kontakt mit dem närrischen Volk. Der hochwürdige Elferrat hat gerade unter dem Wurfgut einen Satz kleiner Rasseln entdeckt, und binnen Sekunden verwandeln sich erwachsene Männer in fröhliche Kinder. Unter mexikanischen Rhythmen zieht man vorbei an Bierdosen-dekorierten Sträuchern und Batterien leerer Sektflaschen - die Footballer und Eishockey-Spieler auf ihren Wagen haben offenbar mehr Vertrauen in das eigene Fassungsvermögen.

Der erste Fan ist eine muntere Seniorin: Die Dame jenseits der 70 demonstriert exakte Kenntnisse der Choreographie des Ketchup-Songs. Die Gardemädchen hören einen Moment lang auf zu frieren und tanzen mit.

Ab St. Matthias tobt dann der Bär. Omas mit Burger-King-Kronen,Patentanten mit aufgespannten Schirmen, Halbstarke mit auffüllbereiten Plastikbechern versetzen den Wagen in einen permanenten Belagerungszustand. Ein Wurf mit einer Handvoll Bonbons erzielt den gleichen Effekt, wie man ihn bei der Fütterung junger Seelöwen im Zoo sieht. In Deutschland scheint der totale Mangel an Popcorn, Plastikbällchen oder Buntstiften zu herrschen.

Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass die ganz überwiegende Zahl der Besucher nur gut gelaunt ist, fröhlich winkt und sich einfach darüber freut, wenn was in ihre Richtung fliegt. Kleine Teddys für die Kinder, Rosen: Man verteilt gezielt und meidet dabei aufgespannte Schirme, Müllsäcke oder Pappkartons.

Ab der Saarstraße beginnt der Härte-Job für die Jungs von der Security, die neben dem Prunkwagen herlaufen. Dreijährige Kinder stehen im heftigsten Gedrängel, keine zehn Zentimeter von den Reifen des Wagens entfernt. Manchmal sind die Eltern beängstigend weit weg - zum Glück geht auch diesmal alles gut.

Saarstraße und Neustraße sind Familien-Terrain, ab der Fußgängerzone dominieren Gruppen und Pärchen. Am Hauptmarkt sammelt sich die Fastnachts-Hautevolee, aus einem Fenster prostet Bischof Marx der Parade zu.

Vor der Porta, wo die Absperrung endet, sind alle Dämme gebrochen. Mühsam quält sich der Wagen in Schlangenlinien durch die Massen. Triers größter Narr läuft gerade vorbei: Oliver Narr, der Basketball-Center, hinter dessen 2,22 Metern mancher Passant sicher zwei Mann im Kostüm vermutet.

Am Treff 39 in der Paulinstraße steht die Schwulen-Szene Spalier - die Herren Damen lassen bitten.

Danach wechselt das Publikum noch einmal: Am Ende der Strecke stehen manche, für die die Pfennig-Ware aus den Wagen wohl wirklich großen materiellen Wert hat.

Nach gut fünf Stunden ist die Schlacht geschlagen - die organisierten Karnevalisten sind müde. Für die anderen war es nur der stimmungsvolle Start in eine lange Nacht.

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