Zirkus Roncalli: Für die perfekte Show packen alle mit an

Luxemburg · Harte Arbeit, jede Menge Logistik, Erfahrung, Technik, Know-how und Leidenschaft stecken hinter einer guten Zirkusshow. Was die Zuschauer bei den Vorstellungen bestaunen, ist die Summe der Leistung von 120 Künstlern, Technikern, Requisiteuren, Platzwarten, von Zeltmeister, Schneiderin und Orchester.

900 Kilo traben durch die Sägespäne, in denen noch die Konfetti-Schnipsel vom großen Finale der Vorabendshow liegen. Gut 1,80 Meter hoch ist der Rücken des gewaltigen Kaltbluts. Stellt Sunny sich auf seine Hinterbeine, reichen seine Vorderhufe leicht vier Meter hoch. Jeden Morgen übt Karl Trunk mit seinen zehn Pferden als Erster in der Manege.

Besonders viel üben muss der kleine Prinz. Erst seit eineinhalb Monaten gehört der nur 80 Zentimeter große, schwarz-weiß gefleckte Shetland-Hengst zur Roncalli-Familie. In der Vorstellung auftreten darf er noch nicht. Ein Jahr dauert allein die Grundausbildung zum Zirkuspferd normalerweise. "Aber Prinz ist intelligent, es kann sein, dass er es schneller schafft”, sagt Karl Trunk, der mit Pferden arbeitet, seit er zehn Jahre alt ist.

Peitsche hoch heißt Stopp. Ein sanftes "Hoho" beruhigt die Tiere. Nach einer Stunde Training geht's für die Hengste zurück in ihre großen, hellen Boxen. Rund 60 Ballen Heu und etliche Zentner Hafer und Müsli braucht Trunk während des dreiwöchigen Gastspiels in Luxemburg. Geliefert wird das Futter von Bauern der Umgebung. Den großen roten Container voll Mist nehmen die Landwirte dann mit, um ihre Felder zu düngen.

Auf die Terrasse des Restaurant-Zirkuswagens scheint am Vormittag die Sonne. Zeit für einen Kaffee hat Johanna Marstaller trotzdem nicht. "Bin in Eile”, ruft die Zirkuslehrerin. Sie muss noch Unterrichtsunterlagen vorbereiten für ihre Schülerin Lili. Und die muss wiederum schon um 11.30 Uhr beim Artistik-Training sein. Bis dahin steht Mathe auf dem Stundenplan der 16-Jährigen. Die Tochter von Roncalli-Gründer Bernhard Paul will Abitur machen. Das Westfalen-Kolleg bietet Zirkusjugendlichen dafür spezielle Kurse an.

Weil an Montagen die meisten Zirkusse spielfrei haben, gibt\'s an diesem Wochentag in Dortmund Präsenzunterricht von morgens bis abends. Zirkuskinder aus ganz Deutschland reisen dann an. Den Rest der Woche wird zu Hause im Wohnwagen gelernt. Geraldine Philadelphia hat\'s geschafft: Während des Gastspiels in Luxemburg hat die 20-jährige Artistin ihr schriftliches Abitur abgelegt. Dienstagabend Vorstellung, Mittwochmorgen Abiprüfung in Dortmund. Eine harte Zeit für die junge Frau, die gerade eine neue Trapeznummer einstudiert. Weg vom Zirkus will sie aber auch mit dem Abitur in der Tasche erst mal nicht.

Michele Rossi ist der Zeltmeister. Der gelernte Schlosser ist dafür verantwortlich, dass das riesige blau-weiße Zirkuszelt auch bei Wind sicher steht. Mehr als 100 Eisenanker wurden dafür in den Place de Glacis eingeschlagen. Reist der Zirkus ab, werden die Löcher im Asphalt wieder verfüllt. Dicke Seile halten die Zeltplanen und die vier Masten bis dahin auf Spannung. "Mehr als 800 Kilo Zug sind das bei den Haupttauen”, sagt Rossi.45 Stunden, 50 Mann


Bis zu 45 Stunden dauert es, das Zelt aufzubauen, 50 Mann sind damit beschäftigt. Regelmäßig müssen die Abspannungen kontrolliert und nachgezogen werden. Bei den Drahtseilen passiert das über große Winschen. Die kleineren Seile ziehen Rossi und seine Männer schon mal per Hand nach. Dem Italiener liegt das Zirkusleben im Blut: "Seit sieben Generationen reist meine Familie mit Zirkussen”, sagt der 37-Jährige. Nicht als Künstler, sondern für alles, was drumherum anfällt.

Verheiratet ist Rossi allerdings mit einer Artistin. Sprössling Michele junior ist zwei Monate alt. Der einzige Rossi-Nachfahre, der die Familientradition aufrechterhalten könnte. Und wenn der Kleine sich später gegen das Zirkusleben entscheidet? "Selbstverständlich kann mein Sohn mit seinem Leben anfangen, was er möchte”, sagt Papa Michele und blickt in den Kinderwagen. "Aber schön wär's schon, wenn er dabei bliebe.”

Mittagszeit. Mit Tellern und Besteck in Händen schlendern aus allen Ecken des rund 10 000 Quadratmeter großen Zirkusgeländes Mitarbeiter und Artisten zum Café des Artistes. Denn in der Küche von Koch Mutapha Niasse findet sich zwar alles, was man zum Kochen für die 120-köpfige Truppe braucht. Aber für eine Spülmaschine war in dem umgebauten historischen Zirkuswagen kein Platz mehr. So muss jeder, der mitessen will, danach in seinem Wohnwagen sein Geschirr selbst abwaschen.

Für Niasse ist es die erste Saison bei Roncalli. "Aber seit ich als kleiner Junge eine Zirkusvorstellung besucht habe, ist mir die Sache nicht mehr aus dem Kopf gegangen”, sagt der 20-jährige Senegalese, der in Italien aufgewachsen ist. Küchenchef für die Roncalli-Truppe zu sein, ist seine erste Stelle nach der Kochlehre. Heute gibt es Rosenkohl, dazu Buletten und Baguette. Den Artisten, Requisiteuren, Musikern, Technikern und Clowns aus 18 verschiedenen Nationen schmeckt's.

Am frühen Nachmittag klingen aus dem Zelt die ersten Trompetentöne. Auch das neunköpfige Zirkusorchester probt regelmäßig. Für die Shownummern, die live begleitet werden, bleibt die Musik gleich. Was das Orchester dazwischen und beim Einlass des Publikums spielt, wird allerdings ständig erneuert. "Damit es immer frisch klingt und sich keine Routine in den Sound einschleicht”, sagt Orchesterleiter Georg Pommer.

Eng an eng stehen die Zirkuswagen auf dem Place de Glacis. Einige Artisten und Mitarbeiter wohnen in historischen Waggons, die aufwendig und liebevoll restauriert sind. Andere sind mit modernen Wohnwagen auf Tour. Überall stehen Fahrräder, Autos gibt es nur wenige. Die Roncalli-Zirkuswagen werden per Sonderzug von Stadt zu Stadt gebracht.Es muss schnell gehen


Dass der Zirkuswagen von Anna Heinz direkt am hinteren Manegeneingang steht, hat einen guten Grund: "Denn wenn während der Vorstellung eine Kostümhose reißt oder einem Künstler ein Knopf vom Jackett fliegt, muss es schnell gehen”, sagt die 31-jährige Kostümschneiderin. Jetzt, gut zwei Stunden vor der ersten Show des Tages, hat die junge Frau allerdings Zeit. So viel, dass sie in mühsamer Handarbeit gleich mehrere Löcher in der Netzstrumpfhose der Rollschuhartistin Vivian Paul flicken kann. Die gesamte Zirkusschneiderei ist auf etwa zwölf Quadratmetern untergebracht, inklusive alter Pfaff-Tischnähmaschine. Im hinteren Wagenteil stehen Waschmaschine und Trockner. Aus Schubfächern und kleinen Kästen quillen Stoffe, Bordüren, goldene Kordeln. Tausende Pailletten und Knöpfe gehören zum Vorrat.

Anna Heinz hat vorher als Schneiderin bei der Frankfurter Oper gearbeitet, bei einem Marionettentheater und an der Schaubühne Berlin. "Aber die Zirkusleute sind mir die Liebsten”, schwärmt sie. Viel unprätentiöser seien die Artisten als zum Beispiel Opernsänger oder allürenhafte Schauspieler. "Es ist hier wirklich so, wie man sich in seinen romantischen Vorstellungen das Zirkusleben ausmalt. Alle sind gelassen und freundlich, es gibt keine Hektik und kaum Eitelkeiten”, sagt die gebürtige Wuppertalerin.

Fällt einem Jongleur eine Keule herunter, hebt er sie auf, und es geht weiter. Auch wenn ein Salto am Reck einfach statt wie geplant zweifach ausfällt, nimmt die Nummer keinen Schaden - und dem Publikum fällt es wahrscheinlich gar nicht auf. Bei An dreis Jacob Rigolos ist das anders: Der New Yorker baut aus einem guten Dutzend Palmästen, die ohne feste Verbindung aufeinanderliegen, ein fragiles Mobile. Ganze zwölf Minuten dauert es, bis das zarte Gebilde fertig in der Luft schwebt. Patzt Andreis etwa bei Palmast Nummer sieben, und das Mobile zerfällt, ist die Magie der Nummer im Eimer. Von vorne anfangen geht nicht. Gefragt ist also höchste Konzentration.

"Aber selbst, wenn ich völlig fokussiert bin, kann ein einziger Luftzug reichen - etwa, wenn jemand aus dem Zelt rausläuft - um die Palmäste aus dem Gleichgewicht zu bringen.” Gut zwei Stunden vor Showbeginn fängt Andreis an, die Welt außerhalb eines Radius von fünf Metern auszuschalten. Auf jede Bewegung, die in diesem inneren Kreis stattfindet, muss er notfalls reagieren können. Etwa, wenn durch ein laufendes Kind der Holzboden des Zelts zu schwingen beginnt. Geprobt wird mit kleineren Palmästen als in der Show. Sein Atem verlangsamt sich. Andreis scheint wie in Trance. Die Probe läuft perfekt. Das Risiko für die Show bleibt.

Vier rote Stufen sind es bis zur Tür des Zirkuswagens, in dem die Clowns ihre Garderobe haben. Eineinhalb Stunden vor Showbeginn ziehen sich Gensi und Oriol dorthin zurück. Klopft es an die Tür, singt Weißclown Gensi "Hereinhereinherein” auf eine wilde und gleichzeitig zarte Melodie. Gesang, Violine und Theaterwissenschaften hat der Weißclown in Barcelona studiert. "Warum ich ein Weißclown bin? Weil ich weiß geschminkt bin!”, scherzt der Katalane und pudert sich noch einmal den kalkweißen Kopf ab.

Tontechnikerin Liz Barak platzt herein, um frische Batterien in die Mikrofone der beiden zu stecken, die irgendwo auf den Tischen zwischen Spiegeln, Bärten, Farbdosen, Pinseln und Make-up-Schwämmchen liegen. "Weißclowns gehören in die Welt der Erwachsenen. Da geht es nicht nur ums Lachen, sondern um die Kontraste des Lebens, Musik”, sagt Gensi. Der Dummer-August-Clown lebt dagegen eher in der Welt der Kinder. "Es ist fantastisch, Clown zu sein”, schwärmt Oriol, während er sich die Nase rot schminkt. "Du kannst jeden Tag genau die Dinge tun, die du dich als Kind nicht getraut hast!"Im Rhythmus des Publikums

 Sich selbst schminken ist für die Clowns Gensi und Oriol Ehrensache.

Sich selbst schminken ist für die Clowns Gensi und Oriol Ehrensache.

Foto: (h_st )


Den Rhythmus ihres Auftritts macht das Duo vom Publikum abhängig. "Und das ist jedes Mal anders”, sagt Oriol. Sonntagsnachmittags zum Beispiel oft träge vom Essen, und in den Abendvorstellungen am Wochenende gespannt und voller Energie. "Wenn's optimal läuft, finden wir und die Besucher den gleichen Rhythmus - dann gibt\'s die perfekte Harmonie!”

Von Hektik ist selbst wenige Minuten vor Vorstellungsbeginn hinter den Kulissen nichts zu spüren. Die Requisiten werden zurechtgerückt. Über dem Artisteneingang zur Manege hängt ein großer Flachbildschirm, auf dem das Innere des Zelts zu sehen ist. Nach und nach füllen sich die mehr als 1200 Plätze. Das Licht geht an. Das Orchester spielt einen Marsch. Die Show, hinter der so viel Logistik, Training, Lebensfreude, Tradition und Alltagsgeschichten stecken, beginnt.

Roncalli gastiert noch bis Sonntag, 3. Mai, auf dem Place de Glacis in Luxemburg. Karten gibt es im TV-Service-Center Trier oder an der Abendkasse. Infos: www.roncalli.de

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