Geschichte Das lange Schluchzen der Violinen

Trier · So haben Albert und Elfriede Kiefer aus Trier den Zweiten Weltkrieg überlebt – eine Geschichte vom Glück im Unglück.

 Elfriede und Albert Kiefer haben am 13. September 1940 während eines Fronturlaubs geheiratet.

Elfriede und Albert Kiefer haben am 13. September 1940 während eines Fronturlaubs geheiratet.

Foto: privat

Als Helmut Kiefer 2015 im Frankreichurlaub war, begann er, über seine familiären Wurzeln zu recherchieren. Er hatte ein paar Menschen kennengelernt, denen der Kampf gegen das Vergessen so wichtig war wie ihm. Sie organisierten gerade eine Ausstellung zum französischen Foucarville in der Zeit von 1944 bis 1947. Unter ihnen waren auch zwei Autoren. Sie heißen Anne Broillard und Benoit Lenoel. In einem Buch über das Lager beschreiben sie das Leben hinter Stacheldraht: „Prisonniers Allemands en Normandie – un camp américan – Foucarville 1944 – 1947“. Auch die Geschichte von Albert Kiefer aus Trier erzählen die beiden in ihrem Werk.

Für Albert endet der Krieg Albert Kiefer war in Russland stationiert, als ein Ereignis darüber entschied, dass der Feldzug an der Ostfront für ihn vorbei war. Es war ein Samstag im Februar 1944. Albert, 33, marschierte mit seiner Einheit durch Russlands Wälder, als Rotarmisten überraschend angriffen. Sie schossen ihm zweimal ins Bein. Einer seiner Kameraden überlebte den Angriff nicht.

Fotos zur Geschichte von Albert Kiefer
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Fotos zur Geschichte von Albert Kiefer

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Foto: Privat/Helmut Kiefer/Privat von Helmut Kiefer

Eine Kugel ging glatt durch, die andere blieb stecken. Das Projektil haben die Kameraden zwar noch an Ort und Stelle herausgeholt, doch mit der Verletzung sollte Albert in ein deutsches Lazarett kommen. „Eigentümlich ist ja, dass der Anlass zu ein paar schönen Tagen eine Verwundung sein muss“, schrieb Alberts Ehefrau Elfriede damals in ihr Tagebuch. Sie besuchte ihn im Genesungsurlaub. Der Russlandfeldzug war für ihn vorbei.

„Zu den Kameraden wäre er bestimmt gerne wieder zurück, aber nun wird er vielleicht mal was anderes sehen, und Abwechslung ist auch mal gut. Jetzt wird er wohl am Rollen sein nach Südfrankreich,“ schrieb seine Frau nach dem unverhofften Wiedersehen, am 28. Mai 1944. Die Wehrmacht verlegte ihn nach Frankreich. Heute vermutet Helmut Kiefer, Albert Kiefers Sohn: „Wahrscheinlich war seine Verwundung auch seine Rettung.“

Vier Tage nach diesem Tagebucheintrag, in der Nacht zum 2. Juni 1944, erklang im britischen Rundfunk französische Poesie (übersetzt): „Das lange Schluchzen herbstlicher Violinen, die mein Herz mit langweilender Mattigkeit verwunden.“ Es sind Zeilen aus dem Gedicht „Herbstlied“ von Paul Verlaine. Mit ihnen kündigten die Alliierten die bevorstehende Invasion in der Normandie an. Der D-Day, der Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, stand kurz bevor.

Albert war während des Angriffs in Biarritz stationiert, einem Küstenort in Südfrankreich. Dort gingen die Kampfhandlungen an ihm vorbei. Die Wehrmacht verlor an der Ostfront in nur wenigen Wochen knapp 400 000 Soldaten, und Frankreich fiel bald an die Alliierten. Die Sinnlosigkeit, bis zum letzten Tropfen Blut und bis zur letzten Patrone zu kämpfen, ließ Alberts Einheit zu gegebener Zeit die Waffen strecken. „In Frankreich hat er keinen Schuss abgegeben, erzählte er mir“, sagt Helmut Kiefer.

Die Amerikaner brachten ihn nach Foucarville. Dort sammelten sie Kriegsgefangene zu Hunderten auf Feldern. Da waren Zäune aus Stacheldraht, der an krumme Pfähle genagelt war, Öfen aus Matsch und Erde und eisernen Stäben, auf denen die Gefangenen kochten, quadratische Zelte mit Platz für gut 50 Gefangene. Da waren keine Heizung, kein Licht und keine Böden. Dafür aber regnete es ununterbrochen. „Ein Bild des Lagers zu dieser Zeit kann am besten beschrieben werden mit drei Buchstaben – MUD (Schlamm)“, schrieb ein Hauptmann, Ralph Huntington, in einem Bericht.

Damit endete für Albert der Krieg an der Waffe.


Für Elfriede beginnt der Krieg Elfriede, die den Krieg bisher hauptsächlich aus der Entfernung beobachtet und stets auf Lebenszeichen ihres Mannes gewartet hatte, lernte den Krieg zur selben Zeit kennen.

„Am 14. August warfen die Amerikaner eine große Masse Brandbomben auf die Stadt“, steht in ihren Aufzeichnungen über Trier. Vom Dom bis zum Gartenfeld sei alles abgebrannt gewesen. In der Liebfrauenstraße, Meerkatz- und Bantus-, Mustor- und Gartenfeldstraße habe das Feuer fast alles mitgerissen. Das Ursulinenkloster und die Basilika seien vollkommen zerstört gewesen. „Aber ein Glück war es, dass es keine Sprengbomben waren, so kamen nur drei Menschen dabei um.“

Noch während die Bomben fielen, betrieb Elfriede ein Geschäft in der Dietrichstraße und verteilte Nahrung gegen Lebensmittelkarten. Manchmal habe sie sogar Juden, die sich versteckt hatten, kleine Mengen Nahrung zukommen lassen können, heißt es vonseiten der Familie. Insgesamt berichtet sie in ihrem Tagebuch von Hunderten Toten. Einige von ihnen kannte sie, vom Alltag der Kriegswirren, von Besuchen von Bekannten und Freunden vom Nationalsozialismus, und wie das Heim in der Rottenfeldstraße peu á peu zerstört wurde.

7. November 1944. „Das Schlimmste ist das Haus (…). Von den Decken ist der Verputz abgefallen und überall sind Risse. Ja, jetzt haben wir auch eine sonnige und luftige Wohnung. Den ganzen Sonntag haben wir Schutt raus getragen. So ein Dreck, Albert, hatten wir noch nie. Aber auch nichts ist mehr sauber…“ Zwischen den Zeilen offenbart sich, wie Elfriede sich mehr und mehr an Gewalt und die Kriegsumstände gewöhnt hat.

„Für über die Brücke war es ja ein bisschen ungemütlich, aber wir mussten ja rüber.“ Es geht um die Kaiser-Wilhelm-Brücke. Hier beschreibt sie, wie sie im Januar 1945, mit einem Jungen, er heißt Adi, zusammen Lebensmittel besorgt hat. „Auch das ging gut, nur einmal glaubten wir, die Granate hätte uns geschnappt (…). Einige Male kippte dabei unsere ganze Ladung (…), doch ich hatte es gut gepackt und kein Glas war kaputt. Ich musste darüber ja selbst staunen.“


Die Kunst des Improvisierens Die Knappheit an allen Dingen verlangt Improvisationstalent. Während Elfriede in Gärten nach Lebensmitteln suchte, beschlossen die Amerikaner für Foucarville ein Aufbauprogramm. Material für den Aufbau war keines da. Die Gefangenen und die Amerikaner mussten auf das zurückgreifen, was sie fanden.

Den Matsch pflasterten sie mit Kanistern, so dass sie nicht einsanken, wenn sie darüber liefen. Nägel haben sie aus Stacheldraht geschnitten, Schuhe aus Holz geschnitzt und mit Stücken aus alten Lkw-Reifen besetzt. Jeder Mensch, der einen Beruf hatte, war zu irgendetwas nütze.

In Trier, in der Rottenfeldstraße, am Pacelliufer, damals hieß es noch Matthiasufer, zerfällt das Heim: „Nun haben sie gestern noch zwei Bomben hier in die Nähe geworfen und unsere Fenster sind bis auf zwei Scheiben zertrümmert.“ Zu Hause hätte sie ihren Mann gut brauchen können. Denn Albert war Schreiner. Vor dem Krieg arbeitete er in einer Instrumentenwerkstatt und reparierte Klaviere, in seiner Freizeit baute er Lauten und Gitarren für seine Freunde.

So wie die Amerikaner den Aufbau des Lagers forcierten, forcierten sie auch, dass die Gefangenen für ihre eigene Unterhaltung sorgten. Sie unterstützten deshalb auch Albert bei seiner neuen Aufgabe. Er baute Geigen, Celli, Bässe und Gitarren. Seine ersten Werkzeuge waren Rasierklingen und zu Meißeln breitgeschlagene Drahtstifte. Es gibt Fotos von ihm, wie er an der frischen Luft sitzt und frisch geschnitzte Geigen an Schnüren baumeln.

Mitte 1945 gab es im Lager genug Instrumente für ein 25-köpfiges Symphonieorchester. Die Gefangenen bauten ein Theater, das rund 850 Zuhörern Platz bot. Mit Bühne und Orchestergraben, mit Garderoben, Flutlichtern und extra Sitzen für die Kritiker. Ihr Forum war die Lagerzeitung „Die Zukunft“.

Die Ironie des Schicksals Während der Komfort im Lager steigt, retten Elfriede lediglich das Glück und der Zufall immer wieder das Leben:

17. November 1944. „Ich komme nun nicht mehr recht zum Schreiben, denn nun kreisen die Flieger dauernd über dem Ort. Jetzt kommen sie wieder – im Tiefflug – mit Bordwaffe.“

Aus Foucarville gibt es Fotos: Glück­liche Gesichter, Gruppenbilder, Fußballspiele, ein Soldat mit Hundewelpen. Es gibt sogar einen künstlich angelegten Teich für die Trinkwasserversorgung, eine Holzkirche und ein Zelt, in dem Gottesdienste gefeiert werden.

Zwischen dem 12. Oktober 1944 und dem 20. März 1945 behandelt, bis auf eine Ausnahme, jeder Tagebucheintrag den Artilleriebeschuss, Gewehrschüsse, Luftangriffe, Zerstörung oder den Tod. Doch mit dem Ehepaar meint es das Schicksal gut. Der 20. März beginnt so: „Lieber Albert, nun bist du mir etwas näher, denn keine Front trennt uns mehr.“ Bald wähnt sich Elfriede in Sicherheit.

Im Januar 1946 wird Albert, mit zwei Geigen im Gepäck, einem Werkzeughobel und ein paar Andenken heimkehren. Er bekommt nach dem Krieg vier Kinder und beginnt sein neues altes Leben mit der Meisterprüfung im Schreinerhandwerk. Später wird er noch die Meisterprüfung im Geigenbau absolvieren. Er war ein Perfektionist. Davon kann man sich selbst überzeugen. Das mehrere Quadratmeter große Stadtmodell von Trier um 1800 hat Albert Kiefer gebaut. Einige seiner Enkelkinder begannen das Geigenspiel. Jedem von ihnen hat er eine eigene gebaut.

Er wusste sich zu helfen „Dieser schöpferisch veranlagte Mensch weiß sich zu helfen“, stellte der Journalist Will Scheidler fest, als er Albert Kiefer im Sommer 1945 zum Interview in dessen Werkstattzelt traf. Anlass war natürlich seine Tätigkeit im Kriegsgefangenenlager Foucarville. Aus dem Quasi-Nichts heraus baute Kiefer Geigen, Celli, Gitarren und einen Kontrabass und trug so dazu bei, dass ein 25-köpfiges Symphonieorchester mit Musikinstrumenten ausgestattet werden konnte.

„Von der Außenwelt konnte ich nichts hereinbekommen. Ich war deshalb auf die einfachsten Arbeitsmittel und Werkstoffe angewiesen, die ich hier im Lager fand. Als Nutzholz mussten herumliegende Barackenbohlen und Zeltpflöcke dienen. Die Saiten wurden aus Telefon- und Kabeldrähten gesponnen, und von den Lagerpferden kamen die Haare für die Herstellung der Geigenbogen.“ Das erzählte Albert Kiefer dem Journalisten.

Seine ersten Werkzeuge waren Rasierklingen und zu Meißeln breitgeschlagene Drahtstifte. Ein Hobel, den er sich selbst gebastelt hatte, konnte die vergangenen drei Jahre in einer Ausstellung in Foucarville betrachtet werden. Er baute allerdings auch weiteres Werkzeug. In dem Artikel ist von einer Säge, einem Hammer und Stemmeisen die Rede, die zunächst entstehen mussten, bevor daran gedacht werden konnte, brauchbare Musikinstrumente zu bauen. Kameraden bauten eine Saitenspinnmaschine und eine Drehbank. Das ganze Lager funktionierte nur deshalb funktioniert, weil jeder mit seinem Nächsten arbeitete.

Es fehlte dem Instrumentenbauer natürlich auch an Schablonen oder Mustern, so musste er sich behelfen. Um die Mensurlänge, die Länge der freischwingenden Saite, einer Geige beispielsweise, zu bestimmen, malte er einen Strich auf ein Stück Holz und gab es einem ebenfalls gefangenen Berufsmusiker. Der tat so, als würde er darauf spielen und markierte einen Punkt, wenn er meinte, dass ein Ton da sitzt. Nach dem Krieg hätte die Familie die Maße einmal mit denen einer herkömmlichen Geige verglichen. Es habe nur millimetergroße Unterschiede gegeben. Jeden Arbeitsschritt dokumentierte Albert Kiefer in einem kleinen Notizbuch, dass auch in der Ausstellung zu sehen war.

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