Die Flucht aus Trier

Neumagen, den 8. Januar 1945 Ihr Lieben, ich will heute einmal den Versuch machen, Euch zu schreiben; ob der Brief allerdings in Eure Hände gelangt, weiß ich nicht. Wir sitzen hier in einer richtigen Mausefalle, von allem abgeschnitten... Die feindlichen Fliegerangriffe sind verheerend. Fragt nicht, mit welchen Gefühlen ich bei meiner Flucht aus meiner Wohnung durch die Petrusstraße zog. An ihrer Haustüre stand meine Freundin Eva-Rosa noch, ebenfalls zur Flucht bereit. Im Vorbeigehen konnte ich noch von ihr Abschied nehmen...Ich kam gerade noch im letzten Augenblick zur Gauwirtschaftskammer, konnte aus meinem zerstörten Büro aus dem Kassenschrank schnell noch Kassette und Kassenbücher nehmen, und dann ging es gemeinsam mit anderen Mitarbeitern in einem Lastwagen nach Ruwer. Ich blieb bei der Familie Steffes in Ruwer. Am Abend wollten dann Annekett (eine Freundin), ihre Schwester sowie zwei unserer Mitarbeiter der Wirtschaftskammer und ich um 20.30 Uhr nach Neumagen mit der Kleinbahn fahren. Vier Stunden standen wir bei bitterer Kälte im ungeheizten Wartesaal und warteten auf den Zug. Ein Zug, der so überfüllt war, dass die Menschen auf den Trittbrettern standen, fuhr an uns vorbei.Wir konnten kaum mehr auf den Füßen stehen, die Stunden schlichen nur so. Als dann endlich der Zug kam, fehlten die meisten Fenster. Steif vor Kälte kamen wir nachts um 2 Uhr in Neumagen an. Die einzige Bleibe für uns war das Zweigbüro unserer Trierer Wirtschaftskammer, ein einziges Zimmer. Das Bild, das sich uns bot, war trostlos...In dem Raum wurde gekocht, gegessen,... das Publikum bedient, von morgens bis abends geraucht und geschlafen. Ihr seht, die Gauwirtschaftskammer ist würdig untergebracht. Nach zehn Tagen bekamen wir in einem Nachbardorf, Dhron, ein Zimmer, in dem ein Bett stand. Nachdem ich am Tage den Weg von Dhron nach Neumagen zweimal gemacht hatte, konnte ich es vor Schmerzen in den Gelenken kaum aushalten. Für drei bis vier Wochen bot mir daraufhin die Pächterin des "Kaiserhofs" das Zimmer ihrer Kinder an, die sie für diese Zeit zu sich nahm. Am Samstagabend, 23. Dezember, fuhr ich nach Ruwer, um dort Weihnachten zu verleben. Es war mir nicht möglich gewesen, an dem Tag zu Mutters Grab (in Trier) zu gehen. Kurz hinter Kenn hatte man den Blick auf Ehrang und Pfalzel, die lichterloh brannten...Sonntagmorgen, 24. Dezember 1944, machte ich mich in aller Frühe nochmals auf den Weg nach Trier. Ein Wehrmachtwagen nahm mich ein Stück mit. Kurz vor 8 Uhr war ich am Friedhof. Schnell ging ich an Mutters Grab, das noch unversehrt war. Überall entlang meines Weges sah ich nur leere Fensterhöhlen. Eine Granate pfiff über mich hinweg.Weihnachts-Bescherung geht im Bombenhagel unter

Bis ich meine Wohnung in der Petrusstraße erreichte, kam eine zweite angefegt. Die Haustür stand offen. Ich raffte in aller Eile die noch vorhandenen Lebensmittel zusammen.. Um 9 Uhr hetzte ich aus der Wohnung (Anmerkung der Redaktion: Else Hubert überstand zwei Bombenangriffe im Keller der Paulins-Kirche und im Bunker an der Thyrsusstraße. Mit einem Lastwagen gelangte sie am Mittag nach Ruwer) . Nach Tisch begannen wir mit dem, was als Vorbereitung zu der abendlichen Bescherung unter diesen Umständen möglich war. Ich half Frau Steffes noch,an den selbstgestrickten Handschuhen für die beiden kleinen Mädchen die Fäden zu vernähen. Anschließend wollte ich versuchen, einen kleinen Tannenbaum zu schmücken. Aber unsere Ruhe sollte nur von kurzer Dauer sein. (Anmerkung der Redaktion: Es folgt die Schilderung eines Angriffs auf Ruwer, der zahlreiche Todesopfer forderte). Wohl hätte ich die Nacht noch in dem Hause schlafen können, aber ich wollte hier nicht länger bleiben. Ich ging zur Kleinbahn, um mich nach einem Zug zu erkundigen. Es gab aber keinen. Gegen 7 Uhr machte ich mich mit einigen anderen auf den Weg nach Kenn (Anmerkung der Redaktion: Von dort sollte ein Zug fahren) : Dr. Wagner und seine Frau mit einem vollbeladenen Handwagen, ich mit meinem Kinderwagen... Links über der Mosel sahen wir das brennende Ehrang...Gegen 1.30 Uhr kamen wir dann steif vor Kälte in Neumagen an. Das war mein Heiliger Abend 1944. Zu Essen gab es für mich am ersten Feiertag im Gasthaus nichts. Nach einer Beschwerde beim Amtsbürgermeister bekam ich bei dem Bruder des Amtssekretärs einen Freitisch. Ich kam mir wie ein Bettler vor. Wie Diebe und Bettler werden wir in diesen Tagen oft behandelt. Die öffentlichen Luftschutzkeller sind verschlossen. Wir sind ja Fremde... Zu einem richtigen Arbeiten kommen wir nicht, da wir von den Fliegern so sehr gehetzt werden... Wohin soll man zurück, wenn nur mehr die Trümmer übrig geblieben sind? Und doch würden wir alle zu Fuß wieder nach Trier zurückgehen, selbst wenn wir nur in den Kellern hausen könnten. Jeden Tag müssen wir fragen,ob wir am folgenden Tag noch etwas zu essen bekommen...Ob wir uns überhaupt jemals wiedersehen? Es ist alles so trostlos... Else Hubert, Trier, geboren 1902, verstorben 1973. Sie war Buchhalterin in der Wirtschaftskammer, die damals Gauwirtschaftskammer hieß. Der im Text erwähnte Dr. Wagner war deren Leiter. Der Brief wurde von ihrem Neffen Günter Zimmermann übermittelt.

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