Sommerserie TV-Sommerserie Nachtschicht: Der Herr der Nachteulen

Trier/Detzem · Stefan Nummer hat beim Tabakriesen JTI während der Nachtschicht die Verantwortung für 85 Mitarbeiter. Jede dritte Woche arbeitet er nach Sonnenuntergang. Der jungen Familie des Detzemers schadet das nicht – im Gegenteil.

 Stefan Nummer (rechts) und seine Mitarbeiter lösen ein Problem an einer Verpackungsanlage.

Stefan Nummer (rechts) und seine Mitarbeiter lösen ein Problem an einer Verpackungsanlage.

Foto: Christian Thome

„Schlaft gut“, flüstert Stefan Nummer seinen Töchtern zu und zieht die Decke über sie. Die Rollladen sind unten, hinter ihnen weicht das Tageslicht der Dunkelheit. Im Moselort Detzem ist es 20 Uhr. Der Tag von Eva (2) und Jana (4) geht zu Ende, der Arbeitstag ihres Papas beginnt. Stefan Nummer setzt sich zu seiner Frau Marina, schaltet den Fernseher ein. Egal, welche Sendung sie anschauen, Marina wird sie alleine zu Ende sehen müssen. „Ich muss los“, sagt Stefan und verabschiedet sich. Es ist 21 Uhr – in einer halben Stunde beginnt seine Schicht. So oder so ähnlich geht es im Hause Nummer jede dritte Woche zu.

In 35 Kilometern Entfernung durchbricht ein grün beleuchtetes Logo die Nacht. Ein Koloss von einem Gebäude prägt das Industriegebiet in der Diedenhofener Straße in Trier. Wie Motten zum Licht zieht es Hunderte Arbeiter genau zu drei Buchstaben: JTI. Auch Stefan Nummer ist einer von ihnen.

Der 38-Jährige durchfährt die Schranke, stempelt ein und tauscht Sneaker gegen Sicherheitsschuhe. Er nimmt den blauen Arbeitskittel aus seinem Spind und wirft ihn über sein gepunktetes Hemd. Seit 21 Jahren durchläuft er dieses Prozedere, seit 17 Jahren auf Dreischicht. Das heißt eine Woche Frühschicht, eine Woche Nachtschicht, eine Woche Spätschicht. Und wieder von vorne. Im Koordinatorenbüro trifft er die Kollegen der endenden Schicht. Bei einer Tasse Kaffee übergeben sie das Zepter an Nummer und sein Team.

Jetzt ist er in der Verantwortung. Der Detzemer beginnt seine Arbeitsnacht mit einem Rundgang durch „seine“ Abteilung, die Zigaretten- und Packfertigung. „Ich spreche mit jedem Mitarbeiter und frage, wie die Maschinen gelaufen sind“, erklärt er. Das dauert. Rund 85 Arbeitskräfte betreut er jede Nacht. Er ist nicht nur ihr Vorgesetzter, sondern auch ihr Freund. „Die Atmosphäre auf der Schicht ist sehr familiär.“

Er will nicht nur für seine Leute da sein, wenn die Anlage Probleme macht, sondern auch auf persönlicher Ebene. „Ich will meinen Mitarbeitern geben, was sie zum Arbeiten brauchen.“ Während die Familien von Nummer und seinen Kumpanen zu Hause im gemütlichen Bett schlummern, stehen sie an der Maschine. Durch sechs Hallen führt sein Weg. Sie sind durch LED-Taglicht hell erleuchtet. „Wir haben nachts die gleichen Lichtverhältnisse wie tagsüber.“ Das ist wichtig, denn Studien belegen, dass regelmäßige Nachtarbeit krank machen kann. Richtige Beleuchtung steuert dem entgegen.

Ebenso wie Aufklärung und Beratungsgespräche, die JTI immer wieder mit Stefan Nummer und seinen Kollegen führt. „Ich komme mit dem Rhythmus sehr gut klar. Gesundheitliche Probleme hatte ich noch nie“, sagt der Mann, der seit 21 Jahren Glimmstängel produziert. Raucht er? „Nein. Wie in jeder Firma machen das einige, ich aber nicht.“ Es sei wichtig, dass man auf sich Acht gebe. „Sport gehört für mich dazu.“ Auch gesunde Ernährung und viel Sonne seien wichtig. „Wenn ich nach dem Aufstehen mittags meine erste Mahlzeit zu mir nehme, dann ist die Sonne ja schon da“, sagt er und lacht. Es ist ein ehrliches Lachen, kein sarkastisches. Die Schicht gefällt ihm wirklich.

Inzwischen ist er in seinem Büro angekommen und checkt seine Mails. Was steht an? Was ist auf den anderen Schichten liegengeblieben? „Die Nachtschicht ist oftmals ruhiger, da kann man viele Dinge erledigen.“ Ruhig? Naja. Das Telefon klingelt. „Technisches Problem an einer H1000“, sagt er. H-was? „Das ist eine Packanlage für Zigaretten, die 1000 ist die Zahl der bearbeiteten Päckchen. In der Minute.“ Stefan Nummer ist die letzte Instanz, wenn die Produktionsanlagen länger stehen. Nach einem Markenwechsel gibt es Probleme mit den Zuschnitten, das heißt mit den Kartons, in denen die Zigaretten verpackt werden. Zusammen mit dem Operator, so heißt der Anlagenbediener, dem Koordinator und einem Mechaniker schaut sich Nummer mit einer High-Speed-Kamera an, wo genau das Problem liegt. Einmal lokalisiert ist es schnell behoben. Die Maschine hatte die Päckchen nicht akkurat abgesaugt.

 Ein hell erleuchteter Koloss: Das JTI-Werk in der Diedenhofener Straße in Trier strahlt und ist deshalb auch bei Nacht nicht zu übersehen.

Ein hell erleuchteter Koloss: Das JTI-Werk in der Diedenhofener Straße in Trier strahlt und ist deshalb auch bei Nacht nicht zu übersehen.

Foto: Christian Thome

Das Team versorgt die Maschinen und hält sie am Laufen. Karl Marx schrieb einmal kritisch: „In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine.“ Sind Stefan Nummer und sein 85-Mann-Team nur Diener der Maschinen? Nummer hat dazu eine klare Meinung: „Wir haben viel Arbeit mit den Maschinen.“ Doch nehmen die immer besser werdenden Maschinen ihnen die Arbeit weg? „Sie nehmen uns körperliche Arbeit ab, aber es kommt neue Arbeit dazu. Die Maschine dient immer noch uns.“

Es ist Mitternacht. Hinter der großen Glasfassade im Koordinierungsbüro ist es mittlerweile stockdunkel wie im Kinderzimmer von Stefan Nummers Töchtern. Der Unterschied: Der Papa arbeitet, die Töchter träumen. Stefan Nummer macht es nichts aus, dass er jetzt nicht bei ihnen ist: „Wenn sie schlafen, habe ich ja nichts von ihnen“, sagt er. So oder so ist er jeden Tag neun Stunden von den Kleinen und seiner Frau getrennt. Dann am liebsten, wenn sie ihn sowieso nicht vermissen. Wenn er schläft, sind sie im Kindergarten. „Danach haben wir den ganzen Tag für uns, bis ich abends zur Arbeit muss.“ Probleme, Familie und Nachtschicht unter einen Hut zu bringen, kennt er nicht. „Ich finde es wesentlich einfacher, wenn ich Nachtschicht habe. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich nur noch auf Nachtschicht arbeiten.“

1.30 Uhr. Suppe, Putenschnitzel und Pommes. Mittagspause nach Mitternacht. In der Halle scheint der Faktor Zeit nicht existent. Würde draußen keine Finsternis herrschen, würde man nicht bemerken, dass es Nacht ist. Auch nachts wird bei JTI gekocht. Die Kantine hat von ein bis drei Uhr geöffnet. Es gibt verschiedene Menüs und Obstteller, die die gesunde Ernährung der Crew sicherstellen sollen. „Jeder handhabt das anders mit dem Essen“, erklärt der Schichtmanager. Er selbst hat einen klaren Plan: Nach dem Aufstehen gegen 15 Uhr frühstückt er, um 19 Uhr gibt es Mittagessen und um 2.30 Uhr warmes Abendessen. Stefan Nummer stellt seine Ernährung beim Schichtwechsel nicht um, sondern schiebt sie nur einige Stunden nach hinten: „Ich achte nachts mehr auf meine Ernährung.“

Der Schlafrhythmus des Nachtarbeiters ändert sich von Tag zu Tag: „Montags schlafe ich etwa bis 13 Uhr, dienstags bis 14 Uhr und mittwochs bis 15 Uhr. Dann steuert er wieder zurück. „Ab Donnerstag schlafe ich wieder weniger, damit ich mich an die anstehende Spätschicht gewöhne.“

Zusammen mit den drei Koordinatoren, die in der JTI-Hierarchie direkt unter dem Schichtmanager stehen, geht er zurück ins Büro. Er macht sich einen Kaffee und öffnet die Mails. Wieder kann er nicht lange in sein Postfach schauen.  Ein Arbeiter ruft an und hat eine Frage zu seinem Arbeitsauftrag. Der ist sehr komplex, der Schichtmanager eilt ihm zur Hilfe. „Ein Produkt hat oft 25 verschiedene Materialien und noch mehr Spezifikationen, da kann schnell etwas durcheinandergehen.“

70 Prozent seiner Arbeit verbringt er auf dem Flur, im direkten Kontakt mit den Mitarbeitern, die restlichen 30 im Büro. Nicht nur die zeitliche Flexibilität macht die Schicht für Stefan Nummer so interessant, er verdient auch mehr. Jede dritte Woche Nachtschicht zu arbeiten bringt aufs Jahr gerechnet 13 Prozent mehr Gehalt. Ein gern genommener Bonus: „Von den Zuschlägen kann man sich mal etwas gönnen.“ Die Schicht ist auch bei den anderen Mitarbeitern beliebt. Bei der Dienstplanung wird das deutlich: „Die meisten achten bei der Urlaubsplanung darauf, wenig Nachtschichtwochen frei zu nehmen.“

Zum dritten Mal in dieser Schicht öffnet Nummer seine Mails. Immer wieder wird er unterbrochen. „Ich werde oft alle fünf Minuten angerufen. Bei 85 Mitarbeitern passiert das schnell.“ Einige Mails arbeitet er dann doch noch ab, bevor der nächste Schichtmanager im Büro steht. Stefan macht sich Kaffee und übergibt die Verantwortung. Sneaker lösen Sicherheitsschuhe ab, der Kittel findet den Weg zurück in den Spind. Bis zur nächsten Schicht. Stefan Nummer stempelt, steigt ins Auto und passiert die Schranke. Es geht zurück ins heimische Detzem.

Dort angekommen holt er seine Töchter aus dem Bett. „Ich bin wieder da“, flüstert er. Haben die Kleinen überhaupt gemerkt, dass er weg war? Das bleibt ihr Geheimnis. Mutter Marina frühstückt mit den Mädchen. Die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die Detzemer Finsternis. Die  Töchter und Ehefrau starten ausgeruht in den Tag, der Papa und Ehemann legt sich erst mal hin.

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