Schicksal „Warum hat er mich allein gelassen?“ – Wie Angehörige mit dem Suizid ihres Partners umgehen.

Trier · Trauer, Schuld, Wut, Scham. Wenn sich ein Mensch tötet, löst das bei Angehörigen ein Chaos von Gefühlen aus. Eine Betroffene berichtet.

  Der Kreideumriss eines Menschen auf dem Beton neben einem Hochhaus. Hier hat sich ein Mensch das Leben genommen. Eine traumatische Erfahrung ist das auch für seine Angehörigen.

Der Kreideumriss eines Menschen auf dem Beton neben einem Hochhaus. Hier hat sich ein Mensch das Leben genommen. Eine traumatische Erfahrung ist das auch für seine Angehörigen.

Foto: Jörg Loeffke/KNA/Jörg Loeffke

Wenn ein geliebter Mensch sich das Leben nimmt, ist das ein Schock. Für die Angehörigen ist der Tod ein Katastrophe, die auch Jahre später das Leben mitbestimmt. Denn es ist nicht nur Trauer, die bleibt. Hinterbliebene kämpfen über Jahre mit Schuldgefühlen, Wut und Scham. Helga S. (Name geändert) hat diese Tortur selbst erlebt. Und selbst heute, 15 Jahre nach dem Suizid ihres Mannes, fällt es ihr schwer, darüber zu reden.

„Mein Mann hatte seit Jahren immer wieder mit Depressionen zu kämpfen“, erzählt die 55-Jährige Frau aus der Eifel im zunächst stockenden Gespräch mit dem Reporter vom Trierischen Volksfreund. Der hatte sie um ein Treffen gebeten, weil in Trier vom 5. bis 17. Juni eine Ausstellung gezeigt wird, die sich mit dem Thema Suizid befasst. Es ist ein Tabu-Thema, was sich schon daran zeigte, dass sich trotz intensiver Suche durch das Netzwerk Trauer nur Helga S. dazu bereiterklärt hat, über ihre Erfahrungen und Gefühle zu sprechen.

Nun sitzen wir im Wohnzimmer des hübschen Hauses, das die ehemalige Physiotherapeutin mit ihrem neuen Lebenspartner seit einigen Jahren bewohnt. An den Wänden hängen Fotos von ihren Kindern, die inzwischen eigene Familien haben. „Es war schon schwer, mit einem depressiven Mann zu leben“, sagt sie. Aber sie habe gewusst, worauf sie sich eingelassen habe. „Ich habe nie wirklich daran gezweifelt, dass wir es schaffen. Vor allem die ersten Jahre waren gut und ich hatte das Gefühl, dass er die Krankheit im Griff hat.“

Doch dann klingelte an jenem Morgen vor 15 Jahren ein Polizist mit ernstem Gesicht an der Tür. Ihr Mann, gerade einmal 42 Jahre alt, war mit seinem Auto – er war nicht angeschnallt – mit Höchsttempo gegen einen Brückenpfeiler gerast. Jede Hilfe für ihn kam zu spät. „Weil eine Polizeistreife den Unfall beobachtet hat, war sofort klar, dass er das mit Absicht getan hat.“ Den Abschiedsbrief fand sie einige Zeit später später im Haus.

 Alleine mit einer Tochter im Kindergartenalter, einem Sohn in der zweiten Klasse der Grundschule, ohne finanzielle Sicherheit. Bei den Erinnerungen daran ringt die Frau auch heute noch mit der Fassung. „Das waren damals sehr schwere Jahre“, sagt sie. „Ich hätte mich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen, musste aber für die Kinder funktionieren.“ Natürlich habe sie getrauert. „Aber da waren auch sofort Scham und ganz große Schuldgefühle, dass ich es nicht verhindern konnte. Was wäre gewesen wenn? Und dann kam auch noch die Wut: Warum hat er mich alleingelassen?!“

Den Kindern habe sie zunächst nicht die Wahrheit über den Tod ihres Vaters gesagt. „Mein Sohn hat das schnell realisiert, meine Tochter erst Jahre später.“ Auch im Ort habe sie immer von einem Unfall gesprochen. „Bei unserem Pfarrer war es ja schon schwer, eine Urnenbestattung durchzusetzen. Hätte der gewusst, dass sich mein Mann das Leben genommen hat, wäre das mit der Beerdigung vermutlich schwierig geworden.“ Zumindest von der eigenen Verwandtschaft bekam sie Verständnis, auch dafür, dass ihr Mann tatsächlich krank war.

Niemand machte Helga S. Vorwürfe. Woher kamen also die Schuldgefühle? „Das kommt von einem selbst“, sagt sie. „Ich wusste vom Kopf her schnell, dass ich keine Schuld hatte. Das Gefühl war aber anders. Und bei all dem habe ich die Endgültigkeit des Abschieds erst Monate später begriffen. Da war es für meine Mitmenschen längst normal, dass ich als allein erziehende Mutter mein Leben anpacke.“

Weil die damals 42-Jährige aber spürte, dass sie Hilfe brauchte, um dem Teufelskreis aus Wut und Schuldgefühlen zu entkommen, machte sie sich auf die Suche. „Ich wollte eine Trauerbegleitung, habe aber keine Hilfe bekommen“, erinnert sie sich. Eine Selbsthilfegruppe von Alleinerziehenden war auch nicht das Richtige. „Die Probleme, dass ein Partner schlecht zahlt, hätte ich damals gerne gehabt.“

„Warum hat er mich allein gelassen?“
Foto: Harald Oppitz/KNA/Harald Oppitz

Nach einem Jahr traf sie schließlich in Trier bei der Katholischen Familienbildungsstätte auf die Sozialarbeiterin Maria Knebel, die auch die aktuelle Ausstellung in der Jesuitenkirche mitorganisiert. „Das Wochenende Trauerbegleitung mit ihr hat mir sehr viel gebracht“, erinnert sich Helga S. „Aber die Gefühle kommen trotzdem immer wieder, bis heute, besonders an Gedenktagen wie Weihnachten oder Geburstagen. So ein Verlust lässt einen nicht los, das prägt das weitere Leben.“

Die 55-Jährige hat sich inzwischen selbst zur Trauerbegleiterin ausbilden lassen. Plötzlich hält sie inne und blickt aus dem Fenster in den Garten des hübschen Hauses, in dem nichts an das traumatische Ereignis vor 15 Jahren erinnert. „Die Wut hält länger als die Schuldgefühle“, sagt sie dann. „Aber auch darüber kann man nicht sprechen. Wenn ich nach dem Tod meines Mannes gefragt werde, sage ich bis heute, es war ein Unfall.“

Dennoch. Es habe sich im Vergleich zu damals im Umgang mit dem Thema Suizid viel verändert. Und weil sie danach gefragt wird, gibt sie ihren Mitmenschen einen Tipp: „Gebt Trauernden keine Ratschläge, denn in diesem Wort steckt immer der Begriff Schlag. Besser ist die ehrliche Frage ,Wie kann ich Dir helfen?’.“

Suizid – Keine Trauer wie jede andere

Trier Alle 52 Minuten nimmt sich ein Mensch in Deutschland das Leben. Das sind über 10 000 Personen im Jahr. Zum Vergleich: Die Zahl der Menschen, die jährlich bei Verkehrsunfällen sterben, liegt bei unter 3500. An Drogenmissbrauch sterben etwa 1000 Menschen ...

Die Ausstellung, die ab dem 5. Juni in der Jesuitenkirche zu sehen ist, bietet solche und viele weitere Informationen, die nicht einfach zu verdauen sind. Denn wer will sich mit einem Thema befassen, das gesellschaftlich als Tabu und Problem der anderen gilt? Wer will schon wissen, dass vermutlich alle fünf Minuten – statistisch wird das nicht erfasst – ein Mensch in Deutschland versucht, sich das Leben zu nehmen?

In der Wanderausstellung des Vereins Agus (Angehörige um Suizid) mit Sitz in Bayreuth geht es darum aufzuzeigen, dass Suizid jeden treffen kann. Sachlich werden Hintergründe über mögliche Ursachen präsentiert. Es werden unbequeme Wahrheiten erläutert, wie das steigende Suizidrisiko mit zunehmendem Lebensalter und der auffallend hohe Anteil von Männern. Besonders wird aber auch auf die schwierige Situation der Angehörigen und Hinterbliebenen geschaut.

„Suizid vergiftet das Leben der Angehörigen und die Beziehung zu den Toten“, beschreibt die Psychologin Jenna Golda plastisch das Problem. Die 33-Jährige ist Mitglied im Netzwerk Trauer, das die Wanderausstellung nach Trier geholt und in der einjährigen Vorbereitungszeit das umfassende Rahmenprogramm organisiert hat. 13 Institutionen und Vereine, darunter der Hospizverein Trier, die Katholische Familienbildungsstätte, der Kinderschutzbund, die Krebsgesellschaft Rheinland-Pfalz, die Telefonseelsorge Trier oder der Verein Papillon, haben sich in dem Netzwerk zusammengefunden, um Hinterbliebenen Hilfsangebote zu machen.

Eine besondere Herausforderung ist dabei das Thema Suizid. „Das ist der bewusst gewählte und passende Begriff“, erläutert Jenna Golda. „Der Begriff Freitod impliziert, dass es eine freie Entscheidung ist, was nicht stimmt. Der Begriff Selbstmord lässt an niedere Beweggründe denken.“ Tatsächlich sei es bis zum Suizid ein langer Prozess. „Ich will sterben, ist in der Regel nicht der Anstoß für den letzten Schritt, sondern die Unfähigkeit, so weiterleben zu können.“ Erhebliche Auswirkungen habe ein Suizid aber auf sechs bis 20 Menschen aus dem Umfeld des oder der Toten.

„Unser Ziel ist es, zur Enttabuisierung der Todesart Suizid beizutragen“, verdeutlicht auch Psychologin Petra Dewald von der Beratungsstelle Papillon für Kinder krebskranker Eltern. „Wir wollen für die Trauer der Hinterbliebenen sensibilisieren“. Angesprochen werden sollen deshalb neben Angehörigen und Freunden auch Nicht-Betroffene sowie Menschen, die sich beruflich mit dem Thema beschäftigen. Das Rahmenprogramm und die Gesprächspartner sollen aber natürlich auch ein Angebot für Menschen sein, die Suizid-Gedanken haben. In der Ausstellung, für die bewusst mit der Jesuitenkirche ein sakraler Raum als Veranstaltungsort gewählt wurde, wird stets ein Ansprechpartner anwesend sein.

Wie brutal und überraschend die Selbsttötung eines Menschen sein kann, hat Jenna Golda bereits selbst erlebt, als eine scheinbar gefestigte Teilnehmerin eines Gesprächskreises sich nur eine Stunde nach dem Treffen vom Dach des Hauses in den Tod stürzte. „Es bleibt Fassungslosigkeit und die bohrende Frage, wie man das hätte verhindern können“, beschreibt die 33-Jährige die Situation, mit der Angehörige in der Regel noch wesentlich intensiver und emotionaler konfrontiert werden.

Wie überwältigend das Gefühlschaos aus Schuld und Scham ist, beschreibt die Ausstellung, die am Dienstag um 19 Uhr von Schirmherrin Elvira Garbes eröffnet wird, ebenso eindringlich wie die Wut auf den Menschen, der einem das antun konnte. „Die Trauernden wünschen oft das Einzelgespräch“, weiß Psychologin Golda „Denn die eigene Schwäche und Zerrissenheit zu zeigen, ist oft schwierig.“ Das gilt, solange dem Thema Suizid ein gesellschaftlicher Makel anhängt. Die Mauer des Schweigens soll nun gebrochen werden – auch mit der Ausstellung.

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