Gastbeitrag Michael Jäckel Der wartende Konsument oder: Macht Geld glücklich?

Der Trierer Soziologe Michael Jäckel erklärt, was die aktuelle Kaufzurückhaltung der Deutschen mit dem „Tunnel-Effekt“ zu tun hat.

 Die Preise steigen, die Menschen kaufen weniger ein. Gastautor Michael Jäckel sagt: Man kauft vermehrt, was man braucht, seltener das, was man gerne hätte – Versorgungskonsum schlägt Erlebniskonsum.

Die Preise steigen, die Menschen kaufen weniger ein. Gastautor Michael Jäckel sagt: Man kauft vermehrt, was man braucht, seltener das, was man gerne hätte – Versorgungskonsum schlägt Erlebniskonsum.

Foto: Getty Images/iStockphoto/Bet_Noire

In den Anfängen der Pandemie erlebten wir unseren Alltag als eine Überdehnung der Gegenwart. Wir warteten in vielen Situationen und erlebten auf diese Weise „die Gegenwart der Zukunft“. Je monotoner sich der Tagesablauf darstellte, desto ferner erschien ein Zustand, der sich davon absetzen konnte. Die Zukunft blieb dabei also ständig im Blick und ging zugleich verloren. Dieses individuelle Erlebnis korrespondierte mit der Wahrnehmung und Beschreibung des gesellschaftlichen Zustands. Historiker weisen vermehrt darauf hin, dass für längerfristige Zukunftsorientierungen das Zeitempfinden verloren gegangen ist. Die Idee des gesellschaftlichen Fortschritts wird in gewisser Weise von einer Richtungsdebatte überlagert. Das Vorausdenken wird auch hier von Wiederkehrendem gebremst, da es im Gegenwärtigen noch nicht wirklich abgesunken ist.

Typisch für Krisensituationen: Unruhe in der Gesellschaft

Dennoch werden wir häufig aufgefordert, in die Zukunft zu schauen. Viele Instrumente der Demoskopie und der Umfrageforschung fragen nach „Werden Sie …?“ und „Was planen Sie …?“. Stets wird damit die Erwartung artikuliert, dass wir unseren Entscheidungen Phasen der Überlegung voranstellen. Sie sollen in diesem Sinne widerspiegeln, was die Bestimmtheit des Wortes selbst vermittelt und binden unsere Aufmerksamkeit mehr oder weniger stark. Nun muss beispielsweise selbst bei ganz alltäglichen Dingen gut überlegt sein, wie das verfügbare Einkommen auf der einen Seite mit dem Notwendigen und Wünschenswerten auf der anderen Seite verknüpft werden kann. Ein Leben, das in weiten Teilen auf Fremdversorgung angewiesen ist, muss auch in solchen Situationen Vertrauen in das zugrundeliegende Wirtschaftssystem und die dafür zuständigen Institutionen und Organisationsformen aufbringen.

In einer derartigen Krisensituation werden also weite Teile der Gesellschaft von einer allgemeinen Unruhe erfasst. Es war der Soziologe Helmut Klages, der bereits im Jahr 1975 in seinem Buch „Die unruhige Gesellschaft“ von einem „gespaltenen Staatsbild“ sprach. Einerseits schätzte man diesen als ein „Wohlfahrt produzierendes Dienstleistungsunternehmen“, andererseits wurden Ansprüche des Staates an seine Bürger als eine Zumutung interpretiert. Wenige Jahre später trug ein Gutachten zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung den Titel „Individualisierung und Sicherheit“. Auch hier standen die hohe Artikulation von Selbstverwirklichungsbedürfnissen und die Delegation von „Sicherheitsgarantien“ an den Staat im Mittelpunkt.

Wie viel von diesem Leben müssen wir ändern?

In der aktuellen Situation wird nun vermehrt bewusst, dass die Garantie dieses Wohlstands voraussetzungsvoll ist und drastische Rückmeldungen verarbeitet werden müssen. In Anlehnung an den berühmten „Tunnel-Effekt“ kündigt wenig von einer erkennbaren Verbesserung der Lage. Das Wohlergehen ist zwar immer noch ungleich verteilt, aber kaum jemand wagt ernsthaft von einem „Licht am Ende des Tunnels“ zu sprechen. Wer auf die Zukunft setzt, erntet Misstrauen, obwohl alle wissen, dass die Lösung nur dort gefunden werden kann. Zum Staat hin wenden sich die Sorgen und die Hoffnung auf Besserung. Wie viel von diesem Leben müssen wir ändern/wird sich ändern?

Zu einem beliebten Thema der Konsumgesellschaft gehörte immer die Frage, ob die Vielzahl der Produkte und Dienstleistungen die Konsumenten eigentlich glücklicher machen würde. Als Barry Schwartz sein Buch „Anleitung zur Unzufriedenheit. Warum weniger glücklicher macht“ im Jahr 2004 vorlegte, stand dieses seltsame Gemisch aus „Du kannst alles haben“ und „Was willst du denn eigentlich haben?“ im Mittelpunkt. Die Leser erfreuten sich an den Fehleinschätzungen von Verbrauchern und übersahen gelegentlich, dass sie ja selbst dazu gehören. Die anderen sind sozusagen immer die Dummen. Nun aber werden auch gelegentlich tägliche Entscheidungen zu einer Herausforderung. Aus den fast moving consumer goods sind auf einmal Produkte geworden, die sich manchmal eben nicht bewegen. Wer in langlebige Güter investieren möchte, erlebt die Freude am Fortschritt ebenfalls in einer veränderten Form. In Preisen spiegelt sich nach wie vor das Knappheitsphänomen wider, aber die neue Vielfalt manifestiert sich hier in einer Bündelung verschiedener Ungewissheiten: Verfügbarkeit, Lieferzeiten, Geldentwertung, langfristige Kosten.

Geiz ist geil? Von wegen!

Vermehrt wird nun auch anerkannt, dass „Cheapness“, eine von günstigen Angeboten bestimmte Sphäre, eine Illusion sein muss, weil diese nur Gewinner kennt. „The High Cost of low Prices“ lautete der Untertitel einer US-amerikanischen Analyse zu den Verheißungen einer Konsumwelt, die alles erschwinglich zu machen scheint. Die vermeintlich versteckten Kosten werden sichtbar in der Zementierung von sozialen Ungleichheiten oder in Geschäftsmodellen mit Müll, die einer Verantwortungsverschiebung weg von der eigenen Haustür entsprechen. Wer sich hier an die eigene Nase fassen möchte, benötigt einen langen Arm.

Konsum war also nie ein wirklich neutraler Begriff und die moderne Gesellschaft ist ohne Konsumkritik kaum vorstellbar. Stets hat der Mensch nach Nützlichem gestrebt, vor allem in der Welt der Arbeit. Die Ambivalenz des Konsums resultierte aus dem Wunsch, ihm quasi mehr abzuverlangen als den Verbrauch. Wer also die Konsumgesellschaft charakterisiert, betont auch dieses gespaltene Verhältnis, zugleich aber auch das reichhaltige Warensortiment mit hohem Differenzierungsspektrum. Geschmacks- und Stilregeln sorgen ebenfalls für den Unterschied, Begehrlichkeiten werden durch das Marketing aufgebaut. Gegenüber der bedeutsamen Arbeitswelt bewegten sich diese Verhaltensweisen mehr und mehr von einem Nebenschauplatz weg. Das leicht Verfügbare nahm dem Ganzen seine Komplexität und die Gelegenheiten sorgten für die Laune.

Das Influencer-Phänomen: Überall wird vorgemacht, beraten, nachgeahmt

Sich also vor allem über den Konsum zu definieren, löste Widerstände aus. Im Prosumententum (= Produzent und Konsument) etwa vereinigten sich Bedürfnisse des Selbermachens mit der anschließenden Nutzung. Die Zufriedenheit ist gerade hier ein Ergebnis von Aufwand und Ertrag. Diese Do-it-Yourself-Kultur hat viele Gesichter und ist selbstverständlich nicht frei von Vermarktungen geblieben. Überall wird vorgemacht, beraten, nachgeahmt, jede Produkt- oder Dienstleistungsnische hat „Influencer“-Strukturen. Selbstverwirklichung kann somit eine sehr soziale Angelegenheit sein. Was am Ende den eigenen Präferenzen zugrunde liegt, lässt sich nicht leicht in eigenständige und beeinflusste Anteile aufgliedern.

Wenn nun die Unsicherheit über die richtige Entscheidung ansteigt, wird auch das Gefühl, vor echten Entscheidungen zu stehen, zunehmen. Unreflektierte Wahlen jedenfalls will man sich aktuell selbst in Niedrigpreis-Segmenten weniger leisten. Das Bewusstsein des Konsumenten ist wieder intensiver dabei. Der low-cost-Bereich will erarbeitet sein, für die Lösung lässt man sich mehr Zeit. Generell gelangt man zu der Einsicht, dass sich Aufmerksamkeit wieder lohnt. Der Statuskonsum ist nicht aus der Welt, muss aber mehr als diesen relativen Anspruch erfüllen: sinnhaft, nachhaltig, wegweisend. Schnell sind Beschreibungen des neuen Verbrauchers zur Hand, ebenso schnell ändert er seine Präferenzen und lässt in einem sich verteuernden Gesamtumfeld den Preis auch für sich selbst regieren. Bio-Produkte waren beispielsweise die Gewinner der Pandemie, aktuell bleiben sie häufiger liegen. Man kauft vermehrt, was man braucht, seltener das, was man gerne hätte: Versorgungs- vor Erlebniskonsum.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Konsumfreude und Konsumverdruss werden insgesamt also bewusster erlebt. Die Sensibilität gegenüber Ungleichheiten wächst. Die Unruhe sorgt dafür, dass sich in wechselnder Intensität Gewinner und Verlierer zu Wort melden. Ansprüche an die Transparenz des Marktes gehen einher mit der Suche nach Regeln der Vergleichbarkeit. Die Psychophysik der Preise spiegelt in der Entscheidungstheorie unterschiedliche Sparanstrengungen des Konsumenten. Von 400 auf 300 Euro zu gelangen wirkt belohnender als von 10.000 auf 9.900 Euro. Aber das Verbuchungssystem der Krise ist besonders verlustorientiert. Die Verwundbarkeit steigt und damit die Einsicht in die Illusion, den (eigenen) Markt zu beherrschen.

Damit wird Zeit wieder zu einer kritischen Variable. Wer konsumiert, der strebt nun nach Überblick. Für Sten Nadolny war dies in „Die Entdeckung der Langsamkeit“ ein Berufsfeld für jene, die „der Beschleunigung des Zeitalters ausgesetzt sind“. Gedankenströme gehen nun nicht auf die Suche nach Alternativenreichtum, sondern nach verlässlichen Angeboten. Mit der Unterscheidung von schnellem und langsamem Denken hat die Entscheidungstheorie auf den Konflikt zwischen behutsamem Kalkül und intuitivem Handeln hingewiesen. Zukünftig werden wir mehr hin- und hergerissen sein. In Becketts „Warten auf Godot“ heißt es: „Damit haben wir die Zeit verbracht.“

Prof. Dr. Michael Jäckel

Prof. Dr. Michael Jäckel

Foto: Sheila Dolman

Zur Person: Der Gastautor Prof. Dr. Michael Jäckel ist Soziologe, Konsumforscher und seit 2011 Präsident der Universität Trier. 

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort