Volksfreund-Serie Nachtschicht im Seniorenheim: Voller Einsatz für ein Altern in Würde

Manderscheid · Die Pflegerinnen Stephanie Dimmlich und Sabrina Bowert arbeiten, wenn und wo andere schlafen, für ihre „Familie“ im Altenpflegeheim Haus Luzia in Manderscheid bei Wittlich. Während ihrer Nachtschicht erzählen sie, warum sie nicht tauschen möchten und wieso Sterben ihnen keine Angst macht.

 Die Pflegerinnen Stephanie Dimmlich (links, großes Foto) und Sabrina Bowert kümmern sich während der Nachtschicht um die Bewohner des Pflegeheims Haus Luzia in Manderscheid. Dazu gehört unter anderem, jedem Bewohner die richtigen Medikamente zu geben.

Die Pflegerinnen Stephanie Dimmlich (links, großes Foto) und Sabrina Bowert kümmern sich während der Nachtschicht um die Bewohner des Pflegeheims Haus Luzia in Manderscheid. Dazu gehört unter anderem, jedem Bewohner die richtigen Medikamente zu geben.

Foto: TV/Nicolaj Meyer

Ein Schrei stößt die Stille aus der Nacht. Stephanie Dimmlich (36) lässt die Tastatur ruhen, wendet einen gutmütigen Blick nach rechts und folgt den leidend klingenden Geräuschen in den Flur. „Das ist Frau Hegel (Name geändert), ich gehe kurz“, sagt sie zu ihrer Kollegin Sabrina Bowert (28), die im Schwesternzimmer sitzt, nickt und weitertippt.

Frau Hegel weiß nicht immer, warum es ihr nicht gutgeht. Und sie weiß sich nicht immer mitzuteilen. Frau Hegel ist dement. Und Frau Hegels Schreie gehören hierher, ins Pflegeheim Haus Luzia in Manderscheid bei Wittlich. Hinter der Zimmertür verursachen fliegende Zimmergenossen den Ärger der Bewohnerin. Summ, summ und dann zisch und klatsch. Frau Hegel kann sich nicht wehren gegen die Insekten. Also schwingt Dimmlich die Fliegenklatsche für sie.

Seit neun Jahren arbeitet Stephanie Dimmlich nachts. Das heißt von 21.15 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Ein nächtlicher Notruf im Altenheim ist stets ein Rätsel: Blutfontäne mit Notarzteinsatz, Herzstillstand,  ein verrücktes Kissen oder der Wunsch zum Toilettengang warten hinter der Tür – das und so vieles mehr hat die kleine, aber resolute Frau aus Großlittgen in fast 20 Jahren Pflege erlebt.

Sie sagt, sie sei eine von vielen Müttern, die dann in Pflegeheimen arbeiten, wenn andere schlafen. Denn so ließen sich Kinder und Arbeit vereinen. Dimmlich ist allein­erziehend.  Ein Platz im Kinderhort als Alternative zu ihrer nächtlichen Schlaflosigkeit? „Unbezahlbar“, sagt sie, aber sie wolle auch lieber selbst für ihre Kinder da sein. Wie wäre es mit einem gewöhnlichen 9-to-5-Job? „Ich möchte nichts anderes mehr als nachts arbeiten“, erklärt sie und schüttelt den Pferdeschwanz, als sei diese Überlegung so alt wie die Bewohner hier.

Dimmlichs Leben hat sich an die Arbeitszeit angepasst, doch eigentlich ist es andersherum: Sie hat ihre Arbeit ihrem Leben, ihren Kindern, angepasst.

Im Manderscheider Altenheim leben Bewohner verschiedener Herkunft zusammen. Demente, Selbstzahler oder Hartz-4-Empfänger, mehr oder weniger Pflegebedürftige. Das bunte Zusammenleben ist nur in einer Hinsicht eher einfarbig: Das Haus Luzia ist, wie der Name, überwiegend weiblich. 14 männliche Bewohner kommen auf 34 Frauen, und von rund 40 Mitarbeitern ist  einer männlich. „Wir würden Männer aufnehmen“, sagt Bowert und lacht herzlich.

Auch ein bis zwei Pflegekräfte könnten sie noch brauchen, erklärt die Frau und öffnet die von der Arbeit gestärkten Arme gestikulierend. Die Situation ist bekannt: Mindestens 36 000 Fachkräfte fehlen deutschlandweit in der Branche. In der Krankenpflege sind gut 12 500 Stellen nicht besetzt; in der Altenpflege werden 15 000 ausgebildete Altenpflegerinnen und Altenpfleger sowie weitere 8500 Helferinnen und Helfer gesucht. Das zeigt die Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Rein rechnerisch kommen auf 100 offene Stellen 21 Bewerber.

20 Minuten später klingelt im Schwesternzimmer der Alarm am Telefon, das Bowert und Dimmlich jeweils an der Hüfte tragen. Bowert unterbricht die Dokumentation. Sie bringt einer Dame einen Kühlakku für das von Arthrose geplagte Knie. Falls Bowert Stress hat, lässt sie sich das nicht anmerken, ihr Gesicht ist so friedlich wie die Nacht. Danach kommt Bowert zurück ins Schwesternzimmer, um weiterzuschreiben. „Rund 50 Prozent der Arbeit hier besteht aus Dokumentation: Trinkprotokolle, Lagerungsprotokolle  und Bluthochdruckwerte eintragen“, erklärt sie.

Nachtarbeit ist für Dimmlich und Bowert ein guter Kompromiss: weniger Telefonate, weniger Durchgangsverkehr von Ärzten oder Besuchern, weniger Alltagsstress. Bowert nutzt den alternativen Arbeitsrhythmus, um länger zu schlafen oder etwa Behördengänge zu erledigen. Dimmlich genießt die Zeit mit ihren Kindern. „Dafür kann ich tagsüber mal eine Radtour machen“, sagt sie.

Eine nikotinhaltige Atempause lockt Bowert durch das Untergeschoss nach draußen. Sie geht vorbei am torwandgroßen bunten Plakat mit dem Titel Sommerfest, vorbei an den von Bewohnern selbst gebastelten Pappschmetterlingen, die von der Decke des Gemeinschaftsraums hängen. Die Treppen hinunter durch den Kellerflur mit  einem ganzen Fuhrpark an Rollatoren. Kein Laut aus den 48 Zimmern des Pflegeheims. Gegen 6 Uhr hat für die Bewohner des Manderscheider Altenheims die Nacht begonnen. „Die meisten gehen immer sehr früh schlafen“, sagt Bowert und zieht an ihrer Kippe. Nur eine Zigarettenlänge sitzt sie an der vom Vollmond ausgeleuchteten Terrasse.

Was bedeutet eigentlich Alt-Sein für jemanden, der täglich vom Alter umgeben ist? „Die einen sagen, sie sind alt, wenn sie in Rente gehen, die anderen, wenn sie nichts mehr können. Wieder andere fühlen sich nach durchzechter Nacht sehr alt“, sagt Bowert. Alter ist also  individuell? Wie der schnöde Spruch: Man ist so alt, wie man sich fühlt? Glaubt man der Definition der Weltgesundheitsorganisation, dann gilt man ab 76 als alt. Wer über 100 wird, ist  „langlebig“ (siehe Info).

Auf dem Weg zurück macht Bowert halt im Kaminzimmer. Zwischen Altkanzler Schröders Biografie und Simmels Roman „Niemand ist eine Insel“ greift sie ein Abschiedsbuch aus dem Regal. Wie es für das Ableben eines Menschen überall auf der Welt Rituale gibt, so auch hier im Heim. Name, Geburts- und Todesdaten sowie ein passender Spruch, manchmal noch ein Bild, gibt es hier von jedem Verstorbenen aus dem Haus Luzia. Wie ein kleiner Friedhof in Din-A-4-Format. „Wir weinen auch schon mal alle zusammen, wenn jemand stirbt“, sagt Bowert und blättert ein paar Seiten durch.

Der Tod klopft hier etwas häufiger an die Tür als andernorts: Denn auch wenn die meisten Menschen wohl am liebsten friedlich im eigenen Bett einschlafen würden, sterben drei Viertel der Deutschen im Krankenhaus oder in einem Altenheim wie hier.

Gerade Sterbefälle zu verarbeiten und die Arbeit mit Dementen seien psychisch belastend, führt Bowert aus. Hinzu komme die schwere körperliche Arbeit etwa beim Umlagern – das heißt Patienten ins Bett hieven oder umdrehen. Schicht- und Nachtarbeit brächten auch soziale Einbußen mit sich, aber „die Freunde haben akzeptiert, dass ich nicht überall dabei bin“, erklärt Bowert.

Fühlt sie sich in ihrem Beruf anerkannt? Da ist sie zwiegespalten: Einmal sagt sie: „Pflege ist mehr als A... abwischen“, das habe sie auch dem eigenen Umfeld erklären müssen. Viele wüssten über den Beruf nicht gut genug Bescheid.

Von den Bewohnern und Angehörigen sei die Anerkennung groß: „Um die Weihnachtszeit quillt das Schwesternzimmer über vor Schokolade“ – Geschenke von dankbaren Familien.

Die Dankbarkeit und das Gefühl, helfen zu können, motiviert Dimmlich und Bowert. „Mein Herz ist in diesem Beruf aufgegangen“, sagt Dimmlich. Und: „Man wird selbstbewusster durch die Verantwortung, die man übernimmt.“

4 Uhr nachts, es wird Zeit für einen der Rundgänge. Leise drückt sie den Türgriff runter. Die meisten Schlafenden schauten sehr friedlich, verrät die junge Mutter. Die Frau, die so agil ist, dass sie um 7 Uhr morgens nach ihrer Nachtschicht noch joggen geht, schaut in beinahe jedes der 48 Zimmer kurz hinein. Nur wenige Herzschläge lang, um zu sehen, ob alles stimmt.

Menschen werden weniger, ihr Zustand verschlechtert sich, sie kommunizieren knapper und werden kränker – dem Tod ständig nah: Hat man da Angst vor dem eigenen Altwerden und Sterben? „Vorm Sterben nein, ich habe so viele Menschen dabei begleitet. Vorm Alter habe ich Angst“, sagt sie. „Weil man nicht weiß, ob man in Würde altern darf.“

Deshalb ist ihr die Würde ihrer Familie – die Worte „Würde“ und „Familie“ fallen bei Dimmlich und Bowert immer wieder für die Bewohner und Kollegen im Heim – eine Herzensangelegenheit.

 Die Pflegerinnen Stephanie Dimmlich und Sabrina Bowert arbeiten, wenn und wo andere schlafen, für ihre „Familie“ im Altenpflegeheim Haus Luzia in Manderscheid. Während ihrer Nachtschicht erzählen sie, warum sie nicht tauschen möchten, und wieso Sterben ihnen keine Angst macht.

Die Pflegerinnen Stephanie Dimmlich und Sabrina Bowert arbeiten, wenn und wo andere schlafen, für ihre „Familie“ im Altenpflegeheim Haus Luzia in Manderscheid. Während ihrer Nachtschicht erzählen sie, warum sie nicht tauschen möchten, und wieso Sterben ihnen keine Angst macht.

Foto: TV/Nicolaj Meyer
 Die Pflegerinnen Stephanie Dimmlich und Sabrina Bowert arbeiten, wenn und wo andere schlafen, für ihre „Familie“ im Altenpflegeheim Haus Luzia in Manderscheid. Während ihrer Nachtschicht erzählen sie, warum sie nicht tauschen möchten, und wieso Sterben ihnen keine Angst macht.

Die Pflegerinnen Stephanie Dimmlich und Sabrina Bowert arbeiten, wenn und wo andere schlafen, für ihre „Familie“ im Altenpflegeheim Haus Luzia in Manderscheid. Während ihrer Nachtschicht erzählen sie, warum sie nicht tauschen möchten, und wieso Sterben ihnen keine Angst macht.

Foto: TV/Nicolaj Meyer
 Im Kaminzimmer können sich die Bewohner Bücher ausleihen und in Sesseln darin schmökern. Dort gibt es auch ein Erinnerungsbuch an verstorbene Heimbewohner.

Im Kaminzimmer können sich die Bewohner Bücher ausleihen und in Sesseln darin schmökern. Dort gibt es auch ein Erinnerungsbuch an verstorbene Heimbewohner.

Foto: TV/Nicolaj Meyer

So gibt es auch nach jeder Nachtschicht eine letzte Aufgabe: Kaffeekochen für die Kollegen der Frühschicht, „damit die gut in den Tag starten“.

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