Bei Eichendorff fließen die Tränen

Gerolstein · Gedichte können Demenzkranke erreichen. Das hat der Poetry-Slammer Lars Ruppel in einem Gerolsteiner Seniorenheim gezeigt. Gemeinsam mit Schülerinnen des St. Matthias Gymnasiums hat er eine Gruppe älterer Menschen zum Mitmachen angeregt.

"Poesie ist überall", behauptet Lars Ruppel und tritt gleich den Beweis an. Er begrüßt alle Demenzkranken, fragt nach dem Namen und reimt aus dem Stegreif einen passenden Vers zum Namen.
Im Gerolsteiner Maternus-Stift sind an diesem Morgen neun Schülerinnen des St.-Matthias-Gymnasiums zu Gast. Mit ihrer klassenübergreifenden Arbeitsgemeinschaft, geleitet von Lehrerin Katja Kläs und ihrem Kollegen Elmar Oestreich, besuchen sie zwar regelmäßig das Seniorenheim, aber dieses Mal steht ein Workshop über Gedichte auf dem Programm. Lars Ruppel beschäftigt sich beruflich mit Poesie, steht als Poetry-Slammer auf der Bühne. Bei Poetry-Slams werden Gedichte im Wettbewerb mehrerer Künstler vorgetragen, und das Publikum entscheidet über die beste Darbietung. Ruppel leitet aber auch das bundesweite Alzheimer Poesie Projekt.
Rund 60-mal im Jahr zeigt er Pflegekräften, Angehörigen oder auch Schülern in Seminaren, dass "Poesie als Mittel genutzt werden kann, um Menschen mit Demenz zu erreichen."
Energie schenken

 Schülerinnen und Demenzkranke kommen im Gerolsteiner Seniorenheim in Kontakt – mit Hilfe von Gedichten. TV-Foto: Alwin Ixfeld

Schülerinnen und Demenzkranke kommen im Gerolsteiner Seniorenheim in Kontakt – mit Hilfe von Gedichten. TV-Foto: Alwin Ixfeld


Der 28-Jährige aus Marburg hat mit 16 Jahren erkannt, dass "Gedichte mehr sind, als dass sie in der Schule schlecht bewertet werden", erklärt er schmunzelnd. "Die Energie, die du in die Poesie steckst, bekommst du auch wieder", sagt er. Bei ihren Vorträgen vor Publikum wird schnell deutlich, was er damit meint. Die Demenzkranken reagieren auf direkte Ansprache, auf Berührungen und sprechen bekannte Gedichte mit. Besonders das Gedicht "Mondnacht" von Joseph von Eichendorff sei "eines der wichtigsten und stärksten Gedichte", erklärt Ruppel den Schülerinnen.
Tatsächlich können bei den Schlusszeilen "Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus" einige der Heimbewohner ihre Rührung nicht verbergen. Es sei der "unheimlich emotional aufgeladene Begriff Zuhause", der die Menschen anrühre, sagt Ruppel.
Aber mit seiner witzigen Art schafft er es immer wieder, seine Gruppe zum Lachen zu bringen. Sogar der Berufsdichter lernt noch etwas Neues: Kettenblumen, so nennt eine alte Dame die Löwenzahnblüten, die eine der Schülerinnen verteilt. Daraus hätten sie früher Blumenketten gebunden, sagt die Seniorin. "Das ist eine schöne Erfahrung, so auf die alten Menschen zuzugehen", sagt Schülerin Kirsten Weides (16). Und Maria Rau (19) lobt: "Lars war sehr inspirierend und kann das gut vermitteln."
Claudia Haase, Leiterin des Stifts, sind besonders zwei Seniorinnen aufgefallen: "Die beiden reden sonst fast nichts, hier haben sie sogar ,Freude schöner Götterfunken\' mitgesungen." Es sei die "direkte Anwendung von Poesie", die auch Menschen mit Demenz Spaß bringe und dafür sorge, dass "man am Ende gut drauf ist", erklärt Ruppel. Die Rückmeldung einer Seniorin belegt das: "Schön, dass sie da waren."

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