Erinnerungen an Bautzen: "Man ist einfach verschwunden"

Oberbettingen · Schikane, Einschüchterung und seelische Folter. Der 82-jährige Theo Pohl aus Oberbettingen war bei den Unruhen am 17. Juni 1953 nicht dabei. Denn er war schon vorher verhaftet worden und saß als politischer Gefangener im berüchtigten Stasi-Gefängnis in Bautzen.

 Theo Pohl aus Oberbettingen saß im berüchtigten Stasi-Gefängnis in Bautzen – und hat viel zu erzählen. TV-Foto: Tobias Senzig

Theo Pohl aus Oberbettingen saß im berüchtigten Stasi-Gefängnis in Bautzen – und hat viel zu erzählen. TV-Foto: Tobias Senzig

"Ich war drei Jahre lang im Gefängnis von Bautzen eingesperrt", sagt Theo Pohl. Der 82-Jährige sitzt auf der Couch im Wohnzimmer seines Hauses in Oberbettingen. Vor ihm liegt ein Stapel mit Kopien von Flugblättern und Fahndungsfotos. Theo Pohl ist ein Mann, der in seinem Leben viel erlebt hat. Flucht, Vertreibung - und schließlich Haft im "gelben Elend", dem berüchtigten Stasi-Gefängnis Bautzen.

Nach der Vertreibung aus Böhmen 1946 arbeitete Pohl als Werkzeugmacher in einer Porzellanfabrik im thüringischen Hermsdorf. Doch das DDR-Regime, das komplett unter der Kontrolle der stalinistischen Sowjetunion stand, war dem damals 20-Jährigen zutiefst zuwider. "Als Jugendlicher war man oppositionell", erinnert er sich. "Wir haben verbotenerweise die Sendungen des amerikanischen RIAS-Radios gehört. Wir beschlossen, uns gegen den aufkommenden Kommunismus zu wehren." Gemeinsam mit seinem Arbeitskollegen Horst Rosenkranz fuhr er ins damals noch zugängliche Westberlin, marschierte in die RIAS-Zentrale in die Kufsteiner Straße und deckte sich mit Flugblättern und Informationsmaterial ein. Kleine, dünne Papierchen auf einer Seite gummiert, damit man sie leicht aufkleben kann.

An Telefonzellen und Verteilerkästen brachten die beiden die Zettel an. Schließlich galt laut Verfassung in der DDR Meinungsfreiheit. "Wir waren damals blauäugig", sagt Pohl. Ein Jahr lang ging das riskante Spiel gut - 1951 wurden Pohl und Rosenkranz dann von einem Arbeitskollegen denunziert. Die Stasi untersuchte die Zimmer der beiden und fand bei Rosenkranz den Fundus an Flugblättern. "Sie kamen uns direkt von der Arbeit abholen", erinnert sich Pohl. Noch auf dem Fabrikgelände wurden sie in einen Gefangenentransporter geladen. Familie, Freunde, Kollegen - niemand wurde von der Verhaftung informiert. "Man ist einfach verschwunden", sagt Pohl.

Wochenlang wurde er im Stasi-Hauptquartier in Weimar verhört. Das hieß: "Nachts Verhöre. Tagsüber Schlafentzug." Die Verdächtigen wurden aus ihren Zellen geholt und in dunklen Kammern verhört. "Das war eine Folter, die sich ein normaler Bürger nicht vorstellen kann.Folter und Erpressung


So wurden die Geständnisse erpresst." Pohl musste Protokolle unterschreiben, die auf Russisch verfasst waren und die er nicht verstand. Um "seine Ruhe zu haben", wie Pohl sagt. Antisowjetische Tätigkeiten, Spionage und Gruppenbildung wurden ihm angelastet, wie er später erfuhr. Ohne Verteidiger wurden er und Rosenkranz schließlich von einem Militärtribunal verurteilt. "Wir waren 20 Jahre alt - und wurden zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt." Dann ging es in den berüchtigten Stasi-Knast von Bautzen. Bis zur Ankunft dort trug er immer noch die Arbeitskleidung, in der er verhaftet worden war.

Das Bautzener Gefängnis war eigentlich für 1200 Gefangene ausgelegt. Aber Anfang der 1950er Jahre drängten sich mehr als 8000 Gefangene - meist Regimegegner - in den engen Verließen und Sälen. "Wir waren zu viert in einer kleinen Zelle untergebracht", sagt Pohl. Tagsüber durften sie sich weder auf die Kojen legen noch auf den Boden setzen. Nur einen kleinen Holzschemel durften die Gefangenen abwechselnd benutzen. Ein Putzeimer diente als Toilette.

Pohl erwartete nicht, dass er bald wieder freigelassen wurde. "Ich hatte zu viel gesehen. Ich war zu einer Gefahr für das System geworden." Insgeheim hoffte er auf einen Krieg, durch den er befreit wurde.
Vom Aufstand am 17. Juni erfuhr er dadurch, dass die Wachen nervös wurden. "Andere Gefängnisse waren von den Aufständischen gestürmt worden. Sie bekamen es mit der Angst zu tun." Aber Bautzen wurde nach dem Aufstand nur noch voller. Auch zahlreiche verhaftete Aufständische wurden in den Stasi-Knast gebracht. Auf die Häftlingskleidung der Neuen wurde ein großes gelbes X genäht.

Durch den Tod Stalins im März 1953 änderte sich viel in der DDR - auch für die politischen Gefangenen. Noch ein Jahr saß Theo Pohl ein, dann wurde er entlassen. "Ich weiß bis heute nicht, warum. Mithäftlinge, die für das gleiche Delikt einsaßen, verbrachten bis zu 15 Jahre im Gefängnis." Andere waren erst gar nicht in ein Gefängnis gebracht worden, sondern nach Moskau verschleppt und dort erschossen worden.Job in der Eifel


1954 war Pohl in Freiheit. Er wartete einige Monate ab - dann floh er über Berlin in den Westen. In der Eifel hatte er einen Arbeitsplatz bekommen: beim Porzellanwerk Rauschert in Oberbettingen. Gemeinsam mit dem Sohn des Firmeninhabers baute er das Werk auf.

"Die Eifel war damals schlecht dran", erinnert sich Pohl. "Ich sagte mir seinerzeit: Hier bleibst du nicht lange." Aus dem Kurzaufenthalt sind inzwischen fast 60 Jahre geworden. Ein Grund dafür ist auch die Chefsekretärin, die er im Betrieb kennenlernte: Seit 66 Jahren ist er mit seiner Marga nun verheiratet.
Zweimal im Jahr fährt Theo Pohl auch heute noch zu Treffen mit ehemaligen Mithäftlingen nach Bautzen. "Noch heute wissen viele nicht, was in der DDR passiert ist."Extra

Anlässlich des 60. Jahrestags des Aufstands vom 17. Juni gibt es im Hillesheimer Rathaus eine Ausstellung zum Thema. Ab 21. Juni werden dort Beispiele für die politische Verfolgung aufgezeigt. Ebenfalls am 21. Juni gibt es eine Podiumsdiskussion über Widerstand und Verfolgung in der DDR. Dabei wird Zeitzeuge Theo Pohl mit Politikern und Historikern debattieren. Die Veranstaltung beginnt um 18 Uhr in der Alten Schreinerei in Hillesheim. sen

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort