Krisenherde und heiße Eisen

DAUN. Erst rund um den Erdball, dann in die Eifel: Deutschlands bekanntester Auslandskorrespondent Peter Scholl-Latour kommt am Freitag im Rahmen des Eifel-Literatur-Festivals zu einem vom TV präsentierten (ausverkauften) Vortrag nach Daun. Im Interview malt er ein düsteres Bild über die Situation im Nahen Osten und in Afghanistan. Seine Appelle: Die Deutschen sollen sofort abziehen, sich von den USA distanzieren und sich um ein Militärbündnis des "alten" Europa bemühen – mit Atomwaffen.

In Ihrem jüngsten Werk beleuchten Sie die Situation Russlands und prognostizieren, dass auf dem Territorium der Großmacht gleich mehrere weltpolitisch relevante Krisen auszubrechen drohen. Was erwarten Sie?Scholl-Latour: Wie es der Titel meines Buches "Russland im Zangengriff - Putins Imperium zwischen Nato, dem Islam und China" schon sagt, hat Russland mit drei Problemen zu kämpfen. Erstens: Die Nato bewegt sich nach Osten. Der Versuch, die Ukraine in die Nato zu ziehen, der von den USA offensiv betrieben wird, löst in Russland alles andere als Freude aus. Zweitens: Die islamische Bedrohung. Zwischen Smolensk und Wladiwostok leben 145 Millionen Menschen, davon sind 20 Millionen turkstämmige Muslime. Und während sich die russische Bevölkerung jährlich um 800 000 Menschen verringert, nimmt die muslimische Minderheit permanent zu. Zudem hat Putin die berechtigte Befürchtung, dass sich die islamische Bewegung, die in Tschetschenien und Dagestan sehr lebendig ist, auf andere, überwiegend muslimische autonome Republiken fortpflanzt. Drittens: Im fernen Osten wächst neben Russland eine Weltmacht heran: China. Schon jetzt beherrschen die Chinesen in der Gegend um Wladiwostok den Handel. Auf lange Sicht ist das ganze Gebiet bis zum Baikalsee, das ja kaum bevölkert ist, für Russland verloren. "Heuchlerei des Westens"

Wie fällt Ihre Bilanz der Arbeit des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin aus, der seiner dritten Amtszeit entgegenstrebt?Scholl-Latour: Zunächst einmal muss man die westlichen Vorstellungen, die ohnehin heuchlerisch sind, in Frage stellen. Man kann nicht Putin als Nichtdemokrat verdammen und vor dem Präsidenten von Kasachstan, Nasarbajew, den Kotau machen. Oder Saakaschwili in Georgien: Der ist kein Staatschef, sondern ein Bandenführer. Die orangene Revolution in der Ukraine war von Amerika finanziert, von Stiftungen und NGOs (Nichregierungsorganisationen). Das sind alles Entwicklungen, die die Russen auf die Seite von Putin drängen. Was hat denn die Demokratie westlicher Prägung Russland gebracht? Unter der Perestroika ist die Sowjetunion auseinander gebrochen Gorbatschow ist für die Russen der Zerstörer ihres Reichs. Was wäre demnach die passendste Regierungsform für Russland?Scholl-Latour: In Russland geht es nicht ohne eine gewisse Autorität. Wir tun immer so, als sei die Welt demokratisch. Aber: Von den Staaten der Erde sind es gerade einmal zehn Prozent, die nach unseren Vorstellungen demokratisch regiert werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass wir Wahlen nur anerkennen, wenn sie uns ins Konzept passen. Ein Beispiel ist Palästina, wo die Hamas in freien Wahlen an die Macht gekommen ist. Das wollen wir nicht sehen, schießen uns aber auf Putin ein, der in Russland zumindest ein Minimum an Sicherheit geschaffen und dafür gesorgt hat, dass sich die Menschen wieder einigermaßen satt essen können. Sie haben den Nahen Osten bereits angesprochen: Hat der derzeit die Weltpolitik beherrschende Krisenherd überhaupt eine dauerhafte Chance auf Frieden? Scholl-Latour: Nein! Und langsam gestehen wir es uns ja auch ein - beispielsweise der Spiegel, der mich für solche Äußerungen seinerzeit noch als "Vater der Unken" tituliert hat. Der Krieg im Irak ist verloren für Amerika. Der Krieg in Afghanistan ist ebenfalls verloren, und dessen sollten sich die Deutschen rasch bewusst werden. Wenn es nämlich zum großen Stammesaufstand kommt, und der kommt in absehbarer Zeit, dann sind auch die deutschen Garnisonen nicht mehr zu halten. So werden die Tadschiken nicht mehr lange zusehen, wie Präsident Karzai seine Posten an ehemalige Taliban, Ex-Kommunisten und Exilafghanen verteilt. Wofür plädieren Sie?Scholl-Latour: Abziehen! Mit der lächerlichen Streitmacht von ein paar Tausend Mann kann man Afghanistan nicht beherrschen. Skizzieren Sie bitte Prognosen für andere Krisenherde. Erstens: Der Atomstreit mit dem Iran.Scholl-Latour: Wir sehen ja jetzt an Nord-Korea, welche Möglichkeiten dem Westen offen stehen. Da werden große Reden gehalten, Verwünschungen ausgesprochen, da redet man von Irren. Doch damit ist es nicht getan. Ich bin überzeugt, dass die Iraner die Entwicklung ihres Nuklearprogramms nicht stoppen und dass sie eine Atombombe bauen werden. Wie das zu verhindern ist, sollte sich das Pentagon mal überlegen. Das empörte Geschrei ist grotesk, ebenso der Ruf nach Sanktionen. Denn die richten sich immer nur gegen die Bevölkerung. Was soll man unternehmen?Scholl-Latour: Wenn man nicht in der Lage ist, den Irak, der weitgehend flach ist, in den Griff zu bekommen, dann wird das mit dem 70 Millionen Einwohner starken Iran mit seinem extrem schwierigen Gelände erst recht nicht funktionieren. Ein Beispiel: Auch ohne starke Marine könnte der Iran in der Straße von Hormus sämtliche Öllieferungen (aus dem Irak, Kuwait, Saudi-Arabien, Bahrain, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten; Anm. d. Red.) sabotieren. Bliebe die Möglichkeit, dass die Amerikaner Atombomben abwerfen. Aber was uns dann erwarten würde, wäre kaum mehr vorstellbar. Kooperation statt Konfrontation?Scholl-Latour: Wir müssen uns auf jeden Fall auf die eigenen Beine stellen und können nicht mehr alles den Amerikanern überlassen - vor allem nicht unsere Truppen unter den Befehl der Nato stellen, die automatisch von einem amerikanischen General kommandiert wird. Es ist nachgewiesen: Die Politik von Bush hat uns nur Unheil gebracht. Durch den Irak-Krieg ist der Terrorismus gewaltig ausgedehnt und nicht reduziert worden. Eine der wichtigsten Ereignisse im Orient ist aber nicht die amerikanische Präsenz, die ohnehin nicht von Dauer sein wird, sondern das Entstehen eines überwiegend schiitischen Raums zwischen Westafghanistan und dem Mittelmeer. Der daraus resultierende Bürgerkrieg, der im Irak schon im Gange ist, wird viel mehr Blut fordern als der Kampf gegen die Amerikaner. Wie sieht Ihre Prognose für den Libanon aus? Scholl-Latour: Das ist ein weiteres Beispiel militärischen Versagens einer mit Amerika engstens verbundenen Macht. Der Feldzug Israels im Südlibanon: ein Fehlschlag. Wie sieht Ihre Prognose für das Land aus, in dem Sie selbst mehrere Jahre gelebt haben?Scholl-Latour: Die Demokratie des Libanon basiert auf dem Nationalpakt von 1943 mit seinen damaligen konfessionellen Gegebenheiten. Doch diese Proportionen stimmen nicht mehr. So stellen die christlichen Maroniten noch immer den Staatschef und den Armee-Befehlshaber, obwohl sie nur noch eine Minderheit sind. Die Demografie ist auf Seiten der Schiiten. Wenn heute nach dem Prinzip "Ein Mann, eine Stimme" gewählt würde, würden sich die Verhältnisse total verschieben. Der Palästina-Konflikt?Scholl-Latour: Da stimme ich überein mit meinem Freund Avi Primor, dem ehemaligen Botschafter Israels in Deutschland. Und der sieht schwarz. Die jetzige Regierung Olmert ist zu keinen Verhandlungen mehr in der Lage. Was erwarten Sie sich von der allseits überforderten Supermacht USA?Scholl-Latour: Eine Macht, die nicht in der Lage ist, Nordkorea in die Knie zu zwingen, ist keine Supermacht. Und sie kann auch keinen Schutz mehr für Europa bieten. Da ist ein Umdenken erforderlich. "Europa muss über eigene Kernwaffen verfügen"

Was schlussfolgern Sie daraus?Scholl-Latour: Wenn wir künftig Krisen haben, und wir werden welche haben in unserer unmittelbaren Nachbarschaft und werden dadurch viel bedrohter sein als die USA, dann benötigen wir ein Konzept der Eigenverteidigung - und zwar unabhängig von den USA. Zusammenarbeit ja, aber nicht mehr diese totale Unterordnung wie bisher. Wenn wir das nicht zustande bringen, ist das Ende Europas abzusehen. Die jetzige Struktur von Europa mit 27 Staaten wird nicht in der Lage sein, eine gemeinsame Politik und eine gemeinsame Strategie zu entwerfen. Wir müssen zu einem harten Kern des alten Europa zurückfinden. So wenig ist das ja auch nicht: Deutschland und Frankreich zusammen haben so viele Menschen wie Russland und eine stärkere Wirtschaftskraft. Und - und jetzt werde ich Sie wahrscheinlich erschrecken - dieser harte Kern muss auch über eigene Nuklearwaffen verfügen. Also ein neues Wettrüsten?Scholl-Latour: Ich sehe keinen anderen Weg, als den einer europäischen, notfalls auch nationalen Verteidigung mit eigener atomarer Abschreckung. Aber sagen Sie das mal den Politikern, die schon bei der zivilen Nutzung von Kernenergie eine Gänsehaut bekommen. Nicht zuletzt durch die Entsendung von Truppen nach Afghanistan und vor die Küste Libanons ist Deutschland in der Realität der Weltpolitik angekommen. Welche Rolle spielt für Sie Deutschland im Konzert der großen Mächte?Scholl-Latour: Wir spielen nur den Tross. Wenn es zum Schwur kommt, haben unsere Truppen in Afghanistan doch gar nicht die Möglichkeit, aus eigener Kraft dort rauszukommen. Vielleicht können sie sich zur Grenze nach Usbekistan oder Tadschikistan durchschlagen. Die deutsche Regierung, auch die vorherige, ist von den militärischen Kommandeuren und dem BND gewarnt worden. Man will es aber in Berlin nicht wahrhaben. Deutschland hat aber den Anspruch, ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu werden und in der Welt eine tragende Rolle zu spielen.Scholl-Latour: Es ist ja schon so, dass Deutschland bei den Verhandlungen neben den fünf Mitgliedern dabei ist. Eine formelle Mitgliedschaft wird es aber nie geben. Das ist Wunschdenken. Wirtschaftskraft ist also beileibe nicht alles?Scholl-Latour: Die Tragödie ist, dass die jetzige Welt durch die Wirtschaft, durch das Geld, regiert wird. Eine sehr brutale Form der Marktwirtschaft schreibt die politische Richtung vor. Oder aber Angst - so wie bei der vorsorglichen Absetzung der Mozart-Oper "Idomeneo". Was halten Sie davon?Scholl-Latour: Man sollte sich nicht einschüchtern lassen, sondern eine gewisse Stärke entwickeln, die auf den eigenen kulturellen Werten basiert. Was ich aber kritisiere ist: Es genügt dem Regisseur ja nicht, dass Christus am Kreuz gestorben ist. Ihm muss auf der Bühne auch noch der Kopf abgeschlagen werden. Dagegen gab es von der christlichen Seite, auch der Kirche, keinen Protest. Und das wird uns bei den Muslimen als Zeichen der Schwäche ausgelegt, denn die haben ein Gefühl für Würde. Wir nicht. Wenn wir die eigene Zivilisation nicht achten, werden wir auch anderen zivilisatorischen Anstürmen nicht standhalten. Demnächst durch die Antarktis - ganz privat

Apropos Ansturm: Nicht zuletzt aus religiösen Erwägungen stellen Sie den Sinn einer raschen Aufnahme der Türkei in die EU in Frage. Mit welchen Problemen rechnen Sie - vor allem für Deutschland?Scholl-Latour: Ich bin sogar resolut dagegen. Eine Allianz wäre angebracht. Die Türkei ist heute auf dem besten Weg, eine islamische Republik zu werden. Das ist deren gutes Recht und erfolgt zudem auf demokratischem Weg. Man sollte aber nicht so tun, als sei Europa ein Bindeglied zwischen Europa und der islamischen Welt. Denn die Araber und die Türken hassen sich gegenseitig. Sie befürchten eine große Wanderungsbewegung?Scholl-Latour: Als ich führenden türkischen Soziologen gesagt habe "Ihr müsst doch Verständnis dafür haben, dass wir nicht wollen, dass weitere fünf Millionen Türken nach Deutschland kommen", haben die gelacht und gesagt: Nicht fünf, sondern zehn Millionen! Wie sich das auswirken würde, kann man sich leicht ausmalen. Was sind - nach dem nun vollendeten Buch über Russland - Ihre nächsten Ziele und Vorhaben?Scholl-Latour: Jetzt will ich erst einmal ein bisschen Entspannung - auch um mich auf eine weitere, eine private Reise Anfang kommenden Jahres vorzubereiten: in die Antarktis. Ich sammele ja Länder, und einige fehlen mir noch. Was würden Sie sagen, war in Ihrer langjährigen journalistischen Tätigkeit rund um den Erdball die für Sie bedeutendste Begegnung?Scholl-Latour: Charles de Gaulle war zweifelsohne eine ungeheuer beeindruckende Persönlichkeit und der Ajatollah Khomeini. Die berühmte Fotografie von Ihrem Treffen mit dem Ajatollah im Qom kurz nach Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran?Scholl-Latour: Ja genau, und das Bild hat noch immer eine ungeheuere Wirkung. Erst kürzlich bin ich in den Iran ohne Visum eingeflogen. Als ich das Bild rausgeholt habe, hat der zuständige Beamte rumtelefoniert und kurz danach hatte ich meinen Stempel im Pass und tags drauf alle Papiere. Auch in den schiitischen Gebieten des Irak war das Bild eine Art Lebensversicherung. * Die Fragen stellte unser Redakteur Mario Hübner.

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