Medizinischer Dienst im Visier

NEROTH. Im Stich gelassen von seiner Krankenkasse fühlt sich der 78-jährige Herbert Bochen. Dem demenz- und diabeteskranken Mann, der nach Beinamputationen im Rollstuhl sitzt, wurde nach 18 Monaten Zahlung die Pflegeversicherung komplett gestrichen.

"Das ist eine menschliche Tragödie. Bei gesundem Menschenverstand ist es unmöglich, dass so jemand keine Pflegeversicherung bekommt", sagt der Hausarzt von Herbert Bochen. Der Mediziner aus Pelm, der seinen Namen nicht nennen möchte, hat seine Sichtweise der für Bochen zuständigen Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Rheinland in Düsseldorf mitgeteilt. Ohne Erfolg, denn die Krankenkasse beruft sich auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes aus Wittlich. Danach benötigt Bochen "Null Minuten Pflegeaufwand pro Tag".Hausarzt: "Da wird mit zweierlei Maß gemessen"

Bochen erhielt seit Januar 2002 mit 210 Euro im Monat den geringsten Pflegesatz. "Von Anfang an war klar, dass wir diese Einstufung dieses Jahr überprüfen würden", erklärt Dr. Ellen von Itter, Pressesprecherin der AOK Rheinland. Weder die Beinamputationen noch die Demenz würden als alleinige Merkmale für die Gewährung der Leistungen ausreichen, erläutert sie die Statuten. Das Gutachten des Medizinischen Dienstes hätte keine Fortführung der Zahlung gerechtfertigt, und deshalb wurde sie ab Juni gestoppt. Zwei Widersprüche des Patienten lehnte die Krankenkasse ab. Bochens Hausarzt ist stinksauer: "Da wird doch mit zweierlei Maß gemessen. Ich kenne Fälle, die gesundheitlich keine Pflegeversicherung bräuchten, sie aber trotzdem bekommen." Der Allgemeinmediziner geht sogar noch weiter: "Weil die Krankenkassen sparen müssen, wird bei hilflosen Patienten vorschnell geurteilt und ihnen die Pflegestufe aberkannt, weil da mit dem geringsten Widerstand gegen die großen Institutionen zu rechnen ist." Er vermutet eine oberflächliche Befragung seines demenzkranken Patienten durch den Medizinischen Dienst. Dabei könne Bochen seine eigene soziale Situation nicht objektiv einschätzen. Auch Bochens hilfsbereiter Nachbar, Manfred Nüsgen, ist auf den Medizinischen Dienst nicht gut zu sprechen. "Das ist doch eine riesengroße Sauerei. Wenn wir vom Besuch des Gutachters gewusst hätten, wären wir doch dabei gewesen", schimpft er. Nüsgen kümmert sich gemeinsam mit seiner Ehefrau Marie-Luise um den 78-Jährigen, der in einer Souterrainwohnung lebt. "Ich komme allein gar nicht die Treppe zur Straße hoch", sagt Bochen. Zuerst starb seine schwerkranke Ehefrau, dann wurden ihm nacheinander beide Beine amputiert. Jede Nacht rauben ihm Phantomschmerzen den Schlaf. Nur mit großer Kraftanstrengung kann er sich aus dem Bett in den Rollstuhl hangeln. "Mir wird immer schwindelig, ich muss viele Pausen einlegen", sagt Bochen. Ihm macht seine Situation schwer zu schaffen. Verwandte in der Eifel hat er nicht, sein Sohn lebt in Düsseldorf. Der 40-Jährige ist beruflich viel unterwegs und kann sich daher nicht um den Vater kümmern. Die Nachbarn Nüsgen übernahmen diesen Part. Manfred Nüsgen baute sogar Hilfsmittel für Bochen. Beispielsweise ein Tischbrett, das Bochen ohne viel Aufwand sicher auf den Lehnen des Rollstuhls arretieren kann. So kann der behinderte Mann eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wasser von der Küche ins Wohnzimmer transportieren. Bochens linke Hand zittert stark. Außerdem braucht er beide Hände, um den Rollstuhl zu bewegen. "Es muss mehrmals am Tag jemand nach ihm schauen. Er kann quasi nichts mehr selbst machen und wenn er mal mit dem Rollstuhl umfällt oder vom Bett rutscht, dann würde man ihn erst Tage später finden", prognostiziert Nüsgen.Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Bochen ist extrem schwerhörig, schaut viel Fernsehen mit Kopfhörern. Auf Haustürklingeln oder Telefonläuten zu reagieren, ist für ihn nicht möglich. Die Krankenkasse fordert derweil für eine erneute Bewertung einen dritten Widerspruch. Pressesprecherin von Itter meint: "Dann ist es möglich, dass ein anderer Arzt rauskommt und feststellt, dass das erste Gutachten fehlerhaft gewesen ist oder eventuell wichtige Dinge nicht berücksichtigt wurden. Dann kann es vielleicht zu einer anderen Entscheidung kommen."

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