Plus auch für Schwache? "Wir wollen sofort Erfolg"

Hohes Interesse: Rund 180 Gäste - Schulleiter, Lehrer, Eltern, Vertreter der Schulträger und Kommunalpolitiker - ließen sich in Daun von Bildungsstaatssekretärin Vera Reiß über die nächste Schulreform in Rheinland-Pfalz informieren: die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule zur "Realschule plus".

Daun/Gerolstein/Hillesheim/Kelberg. Mit ihrer Einladung zur Information über die anstehende Neuerung im rheinland-pfälzischen Bildungssystem - der "Realschule plus" - hat die SPD-Landtagsabgeordnete Astrid Schmitt (erneut) den Nagel auf den Kopf getroffen: Dutzende Stühle wurden zusätzlich in den Saal Wehrbüsch im Forum Daun getragen, damit alle Gäste einen Platz fanden, einige mussten sich gar in den Flur setzen, um den Ausführungen der Referentin zur nächsten Schulreform (nach dem Umkrempeln des Berufsschulzweigs und dem Turbo-Abi in Ganztagsform) in Rheinland-Pfalz folgen zu können. Bildungs-Staatssekretärin Vera Reiß (SPD), die seit Wochen im Land für die neue Schulform wirbt, nannte zwei Hauptgründe für die Reform: erstens die sinkenden Schülerzahlen (2008 gibt es knapp 575 000 Schüler in Rheinland-Pfalz, 2020 werden es 135 000 weniger sein) und zweitens die sinkende Akzeptanz der Hauptschule - bei den Eltern und der Wirtschaft. So haben sich die Anmeldungen zur Hauptschule in den vergangenen zehn Jahren halbiert: von 75 000 auf gut 36 000. Hauptschülern neue Perspektive geben

Mit dem neuen Schulmodell solle dem entgegen gewirkt werden. Reiß sagte: "Eines unserer wichtigsten Ziele ist, der Hauptschule und den Hauptschülern neue Perspektiven zu geben." Zudem werde mit der Zusammenlegung auch künftig ermöglicht, "Bildungsabschlüsse in zumutbarer Entfernung zu sichern". Dennoch verhehlte Reiß nicht: "Auch mit der Reform wird es zur Schließung kleinerer Hauptschulen im Land kommen."Weitere Ziele der Reform, die mit dem Schuljahr 2009/10 beginnt und ab Schuljahr 2012/13 komplett umgesetzt werden soll, sind: längeres gemeinsames Lernen durch die verpflichtende gemeinsame Orientierungsstufe für Real- und Hauptschüler; Erwerb der Fachhochschulreife, eine stärkere Berufsorientierung. Neben diesen leistungsbezogenen Aspekten sollen auch schwächere Schüler nicht vergessen werden - eine Befürchtung, die vor allem Hauptschullehrer äußerten. So sagte die Vertreterin einer kleinen Einrichtung: "Schon jetzt gibt es weit mehr Bedarf an Schulsozialarbeit und schulpsychologischer Hilfe, als gewährt wird. Schon jetzt werden 20 Prozent der Kinder mit Medikamenten überhaupt erst schulfähig gemacht. Und ich befürchte, dass das in größeren Schulen zunehmen wird." Die Staatssekretärin versuchte zu beruhigen: "Der Hauptschüler wird im neuen System einen zentralen Stellenwert haben, denn er war schließlich Anlass der Reform." Und sie sicherte zu, dass "die Hauptschule all das mitnehmen wird, was sie jetzt schon hat". Hinzukommen sollen "gezielte Förderkonzepte" sowie eine zweite Chance für schwache Schüler: In einer freiwilligen zehnten Klasse soll ihnen zum Abschluss verholfen werden. Notwendigkeit zu handeln

Vor allem die betroffenen Hauptschullehrer blieben skeptisch, der eine oder andere hätte sich auch einen "größeren Wurf" gewünscht. Doch alles in allem wurde die Notwendigkeit des Handelns und der angedachte Weg als grundsätzlich richtig erachtet. Auch Landrat Heinz Onnertz machte sich in einem kurzen, aber flammenden Appell für die neue Schulform stark, denn werde erst einmal eine Schule geschlossen, habe dies "schlimme Konsequenzen": keine Schule, weniger Leute, kein Geschäft… Kurzum: Ein Ort stirbt aus. Welches Versäumnis muss sich die Politik vorwerfen lassen, dass das Image der Hauptschule ruiniert ist?Vera Reiß: Genauso wenig wie sich die Hauptschul-Lehrkräfte etwas vorzuwerfen haben, muss sich die Politik etwas vorwerfen. Wir haben seit Mitte der 90er-Jahre nichts unversucht gelassen, die Hauptschule zu stützen. Trotzdem gingen die Anmeldezahlen nach unten.Also Schuld der Wirtschaft?Reiß: Da muss man unterscheiden, denn es gibt viele Betriebe, die Kooperationspartner waren und auch Hauptschüler eingestellt haben. Aber generell gilt: Dadurch, dass es die Hauptschüler so schwer auf dem Arbeitsmarkt haben, wurde die Hauptschule sicherlich nicht gestützt. Mit der Reform wird das dreigliedrige Schulsystem aufgebrochen. Warum bleibt es bei dem zaghaften Versuch?Reiß: Diese bildungspolitische Reform setzt stark auf Akzeptanz. Es wäre nicht klug zu sagen: Das ist der eine richtige Weg. Vielmehr wollen wir auf die regionalen Gegebenheiten Rücksicht nehmen, denn im Flächenland Rheinland-Pfalz geht es vor allem auch darum, Bildungsabschlüsse in erreichbarer Entfernung sicherzustellen - und zwar auch in den nächsten 20 Jahren. Ans längere gemeinsame Lernen sind wir maßvoll herangegangen und haben es erst einmal auf die Klassen fünf und sechs ausgeweitet. Denn wir wollen, dass die Reform Akzeptanz findet und sofort Erfolg hat. Auch so wird das eine große Herausforderung werden.Wie wollen Sie erreichen, dass der schwache Hauptschüler im neuen, leistungsorientierten System nicht untergeht?Reiß: Durch gezielte Förderkonzepte und eine noch stärkere Berufsorientierung. Zudem wollen wir dafür sorgen, dass am besten niemand ohne Abschluss die Schule verlässt. Schulsozialarbeit und schulpsychologischer Dienst werden auch beibehalten. Die Fragen stellte Mario Hübner

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort