Im Frühjahr noch hui, im Herbst schon pfui

Berlin · Größer könnte der Kontrast kaum sein: In ihrem Frühjahrsgutachten sahen die führenden Wirtschaftsforscher Deutschland noch mitten im Aufschwung. Nur sechs Monate später ist nun vom Abschwung die Rede.

Berlin. Die Konjunkturlage für Deutschland hat sich eingetrübt: Nachzulesen ist das in der gestern veröffentlichen Herbstprognose. Nicht nur die internationalen Rahmenbedingungen haben sich nach Einschätzung der Ökonomen unerwartet stark verschlechtert. Auch die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung bereitet ihnen Sorgen. Sogar die schwarze Null wird inzwischen kritisch gesehen. Nachfolgend die wichtigsten Daten und Hintergründe im Überblick:
Wie ist die Lage?
Sehr ernüchternd. Für das laufende Jahr schraubten die Experten das erwartete Plus beim Bruttoinlandsprodukt deutlich um 0,6 Prozentpunkte gegenüber ihrer Einschätzung vom Frühjahr zurück. Demnach soll die Wirtschaft nur noch um 1,3 Prozent wachsen. Für 2015 wird ein Plus von 1,2 Prozent angegeben. Im April war man noch von zwei Prozent ausgegangen. Noch stärker geirrt haben sich die Experten zuletzt in den Jahren der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise. Dabei sind ihre Prognosedaten Grundlage für die Haushaltsaufstellung bei Bund, Ländern und Kommunen.
Woraus resultiert die Eintrübung?
Die weltwirtschaftliche Produktion sei nur "mit einem unterwartet mäßigen Tempo" vorangekommen, heißt es in dem Gutachten. Insbesondere der Euro-Raum befinde sich nach wie vor in einer Schwächephase. Auch in den Schwellenländern sei die Entwicklung schleppender als ursprünglich angenommen. Internationale Krisen wie der russisch-ukrainische Konflikt und die Kämpfe in Syrien und dem Irak hätten die ökonomischen Aussichten zusätzlich getrübt. Dies alles reduziere die deutschen Exporterwartungen, schreiben die Wirtschaftsforscher.
Gibt es auch hausgemachte Fehleinschätzungen?
Ja. Die Ökonomen räumen selbst ein, "die binnenwirtschaftliche Dynamik zu optimistisch" gesehen zu haben. "Möglicherweise verführten auch der anhaltend stabile Arbeitsmarkt und die gute Lage der Staatsfinanzen zu einer positiven Einschätzung der Konjunktur." Dabei sei die gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung schon seit 2012 mit einer kurzen Unterbrechung im Sinkflug. "Die deutsche Wirtschaft befindet sich mithin in einem - wenn auch nicht allzu ausgeprägten - Abschwung", resümieren die Experten. Wichtigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik sei es daher, "jetzt die Wachstumskräfte zu stärken".
Was halten die Experten vom Regierungskurs?
Schon in ihrem Frühjahrgutachten hatten die Ökonomen "Gegenwind" durch die Wirtschaftspolitik der großen Koalition zu Lasten der Konjunktur ausgemacht. Nun wird diese Kritik noch verschärft. Maßnahmen wie Mindestlohn, Mütterrente und Rente mit 63 seien "wachstumshemmend", heißt es in der Expertise. Auch nutze die Regierung ihren "finanziellen Spielraum zu wenig für investive Zwecke". All dies wirke sich "negativ auf die private Investitionsneigung aus". Zwar begrüßen die Forscher "im Grundsatz" die Sparpolitik der Regierung. Was deren Ziel einer "schwarzen Null" anbetrifft, also eines Bundeshaushalts im kommenden Jahr ohne neue Schulden, so gingen die Experten dazu allerdings gestern hörbar auf Distanz.
Das sei ein "Prestigeprojekt", das "aus ökonomischer Sicht nicht angebracht" sei, meinte Ferdinand Fichtner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), welches die Expertise gemeinsam mit drei weiteren Forschungseinrichtungen erstellt hat.
Was empfehlen die Forscher der Politik?
Zur Ankurbelung der Konjunktur können nach Auffassung der Experten auch noch begrenzt neue Schulden aufgenommen werden, ohne die Regeln der Schuldenbremse zu verletzen. Außerdem gäbe es gemessen an allen öffentlichen Haushalten Überschüsse von sieben Milliarden Euro in diesem sowie drei Milliarden Euro im nächsten Jahr, die man ebenfalls zur Verfügung hätte. Der Spielraum soll allerdings nicht für teure Konjunkturprogramme genutzt werden, sondern für die "Senkung der Abgabenbelastung". Sprich, den Abbau der "kalten Progression" oder eine Glättung des Steuertarifs.

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