Riesige Märkte jenseits des Bosporus

Istanbul · Für die deutschen Stromkonzerne läuft es daheim seit der Energiewende nicht gut. Da fällt der Blick auf neue, wachsende Märkte. Einer der wichtigsten liegt vor der Haustür: die Türkei. Was Premier Recep Erdogan dort plant, lässt die Bosse träumen.

Istanbul. Bei einer Visite in Istanbul sorgte Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) gestern dafür, dass die Träume deutscher Wirtschaftsführer etwas näher an die Realität rücken.
Bis 2023, dem hundertsten Jahrestag der Republik-Gründung durch Kemal Atatürk, will Erdogan sein Land unter die zehn stärksten Wirtschaftsnationen katapultieren - mit Wachstumsraten von bis zu neun Prozent im Jahr.
Ehrgeizige Projekte


An ehrgeizigen Projekten fehlt es nicht. Der größte Flughafen Europas für 90 Millionen Passagiere soll bei Istanbul entstehen und ein Kanal zum Schwarzen Meer den Bosporus ergänzen. Das wohl ehrgeizigste Projekt aber liegt im Energiesektor. In nur zehn Jahren will das Land seine Stromerzeugung verdoppeln, von jetzt 48 000 Megawatt auf 100 000 Megawatt, und dafür 125 Milliarden Dollar investieren. Ein Riesenkuchen, der für deutsche Investoren allerdings teilweise ungenießbar ist. Für die drei Atomkraftwerke, die Erdogan plant, gibt es in Deutschland nämlich kaum noch Know-how. Dieses Geschäft machen Chinesen, Russen und Südkoreaner. Der andere Teil der Pläne aber, der Ausbau sauberer Kohlekraftwerke, effizienter Gastechnik und erneuerbarer Energien ist umso attraktiver. Hier sind die Deutschen führend.
Die großen Konzerne sind in dem 74-Millionen-Einwohner-Staat ohnehin schon präsent. Steag betreibt in Iskenderun das größte türkische Steinkohlekraftwerk und will es um einen dritten Block erweitern.
Schwieriger Markt


Nordex hat 470 Megawatt Windkraft installiert, RWE plant ein 600-Megawatt-Gaskraftwerk an der Ägäis, und selbst die kleine Energieversorgung Weser-Ems (EWE) unterhält regionale Stromnetze.
Aber der Markt ist schwierig. "Das hier ist ein Basar", sagt ein hoher Beamter aus dem deutschen Wirtschaftsministerium. Die Konkurrenz schläft nicht. Auch die Amerikaner sind präsent und veranstalteten gestern in Istanbul ein Energieforum, auf dem Rösler redete.
Am Rande dieser Konferenz schloss der Vizekanzler mit dem türkischen Energieminister Taner Yildiz ein Energie-Abkommen, das eineinhalb Jahre verhandelt worden war und den Deutschen sehr wichtig ist. Es sieht jährliche Ministertreffen und fünf ständige Arbeitsgruppen vor. Aus Berliner Sicht ist der Hauptzweck, Handelshemmnisse, bürokratische Hürden und Benachteiligungen - etwa bei Ausschreibungen - frühzeitig zu erkennen und zu beseitigen. "Damit stoßen wir die Tür weit auf zu einem der wichtigsten Energiemärkte", sagte Rösler - ausdrücklich auch für mittelständische Investoren, die Schwierigkeiten haben, sich allein durchzusetzen. Aus türkischer Sicht geht es auch um eine generelle Verstärkung der Zusammenarbeit "mit Blick auf die laufenden Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU", wie es im Text heißt. In Ankara wird, wenn auch schwächer als früher, noch immer der EU-Traum geträumt.
Die Deutschen wollen zudem gerne dabei beraten, wie man erneuerbare Energien fördert.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Röslers Wirtschaftsministerium, das in Deutschland das Erneuerbare-Energien-Gesetz wegen der hohen Kosten am liebsten abschaffen will, kritisiert in internen Papieren, dass die Einspeisevergütung in der Türkei mit fünf Cent viel zu gering ausfällt, um Windkraft und Sonne wirklich boomen zu lassen.

Aus einem Thema hielt sich der Minister bei seinem Besuch her aus: die Frage einer neuen Gas pipeline, die an Russland vorbei vom Kaspischen Meer nach Europa führen soll.
Nach interner Einschätzung des Ministeriums wird dabei nicht mehr das mitteleuropäische Konsortium Nabucco zum Zuge kommen, an dem auch RWE beteiligt ist. Ex-Außenminister Joschka Fischer berät das Projekt.
Strategisches Interesse


Auf ihren eigenen Territorien wollten die beiden betroffenen Staaten wohl selbst das Geschäft machen, hieß es in Röslers Umgebung. Nabucco könnte aber ab dem europäischen Festland das Gas über den Balkan weiter nach Norden führen.
Die Alternative dazu heißt TAP und sieht eine Weiterleitung über Griechenland durch die Adria nach Italien vor. Dieses Projekt betreibt Eon.
Rösler traf in Istanbul gestern Vertreter beider Konzerne, blieb aber neutral. Für Deutschland und die EU sei von "strategischem Interesse", dass es neben den russischen Pipelines durch die Ostsee und das Schwarze Meer "weitere Energiekorridore" gebe, betonte der Minister lediglich.
Will heißen: Welcher deutsche Konzern daran verdient, ist Berlin egal.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort