Sozialer Frieden in Gefahr: Zehn Jahre nach den Sozial- und Arbeitsmarktreformen zeigt sich immer mehr, an welchen Stellen es hakt

Trier · Ein Gesetz ist nur so gut, wie es sich als sinnvoll in der Praxis erweist. Zehn Jahre nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV) sehen die Kirchen im Land gravierende Mängel. Ihre Forderung: die Fehler von Hartz IV zu beseitigen und Arbeitslose individueller zu fördern.

Trier. Deutschland geht es gut derzeit - und trotzdem sind laut Bundesagentur für Arbeit zehn Prozent aller Haushalte hilfebedürftig. Für die Region Trier hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) rund 86 000 Menschen ausgemacht, die von Armut betroffen oder bedroht sind.

Hilfe zu bekommen ist jedoch an Bedingungen geknüpft. Wer etwa seinen Job verliert und Arbeitslosengeld bekommen will, muss zuvor lang genug in die Sozialversicherung eingezahlt haben. Weil jedoch Zeitarbeit, kurze Befristungen und Mini-Jobs zugenommen haben, schaffen das viele Menschen nicht. Laut einer DGB-Studie fällt jeder fünfte Arbeitslose folglich sofort auf Hartz-IV-Niveau (siehe Extra). Hinzu kommen diejenigen, die schon länger ohne Job sind, rund ein Drittel aller Arbeitslosen in Rheinland-Pfalz.

Etwas, das nun neben der Landesregierung auch die beiden Kirchen auf den Plan ruft. So haben das Bistum Trier und die Evangelische Kirche im Rheinland gestern gemeinsam dazu aufgerufen, in der Arbeitswelt "mehr soziale Gerechtigkeit" walten zu lassen. Zehn Jahre nach Einführung von Hartz IV gehe es nun darum, die Gesetze "nüchtern zu analysieren" und "dauerhaft in einen integrierenden Arbeitsmarkt zu investieren" statt zu kürzen. Zuletzt hatte der Bund 2012 mit einer Reform der Arbeitsmarktinstrumente (Verschärfung Ein-Euro-Jobs, Kürzung von Beschäftigungszuschüssen) allein im ersten Jahr 2,2 Milliarden Euro eingespart. "Es gibt nur noch die Frage, ob gearbeitet wird, und nicht wie und unter welchen Bedingungen", bemängelt Professor Uwe Becker von der Evangelischen Fachhochschule in Bochum. Weil Arbeitslosigkeit geächtet sei, nähmen Arbeitnehmer alles in Kauf, um nicht arbeitslos zu werden. Wer arbeitslos werde, nehme im Gegenzug alles auf sich, um es nicht mehr zu sein.Konjunkturbedingter Boom


Unterstützung finden die Kirchen bei der rheinland-pfälzischen Landesregierung. Arbeits- und Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) bemängelt vor allem die Finanzkürzung bei Jobcentern der Kommunen, so dass derzeit landesweit 120 Stellen nicht besetzt werden könnten, die eine individuellere Vermittlung Langzeitarbeitsloser möglich mache. "Es ist ein Trugschluss, dass in Zeiten guter Arbeitsmarktzahlen weniger Geld für die Vermittlung von Arbeitslosen ausgegeben werden müsse", sagt sie. Auch wenn sie die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe vor zehn Jahren gutheißt und die "Verschiebebahnhöfe beseitigt" sieht, so sei die derzeitige gute Lage am Arbeitsmarkt doch eher konjunkturbedingt und weniger ein Resultat von Arbeitsmarktreformen.

Die Kirchen fordern statt einer "bloßen Alimentierung eine Chance zur Teilhabe", heißt es in dem Papier. Denn Langzeitarbeitslose verlieren einen großen Teil ihrer Unterstützung durch Bestrafung, etwa, wenn eine angebotene Arbeit nicht angenommen wird oder wenn Vorgaben des Jobcenters nicht eingehalten werden. Diese "erniedrigende Sanktionspraxis" hält Professor Stefan Sell, Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz (IBUS), nicht nur für zu aufwendig, sondern auch für überflüssig. "Die Integrationschancen haben sich ohnehin verschlechtert. All diese Dinge binden unnötig Ressourcen", kritisiert er.Flüchtlinge und Hartz IV


Weiteren sozialen Sprengstoff sieht Sell durch die künftige Einbeziehung von Flüchtlingen in den Bezug der Sozialgesetzgebung (SGB) II und damit Hartz IV. "Während bei Langzeitarbeitslosen das Einstiegsgeld zur Aufnahme einer Beschäftigung nach 24 Monaten wegfällt, können Flüchtlinge direkt Zugang zu Förderung haben", sagt er. "So wird sozialer Unfrieden bewusst herbeigeführt."

Bilanz nach zehn Jahren Hartz IV: Kirchen im Land fürchten weitere Kürzungen bei LangzeitarbeitslosenMeinung

Die Reform braucht eine Reform
Langzeitarbeitslose haben in Deutschland ein schlechtes Image: Sie wollen nicht arbeiten, können sich nicht ins Arbeitsleben integrieren, sind überschuldet und haben kein soziales Gewissen. So lauten landläufige Klischees. Doch die Realität sieht bei weitem anders aus. Wer sich einmal die Mühe macht und hinter die Kulissen eines Jobcenters schaut, sieht schnell, dass Arbeitslosigkeit so vielfältig ist wie die Arbeitslosen selbst. Denn wer einmal in der Mühle steckt, findet oft schwer wieder hinaus. Und deshalb ist die Vermittlung in Arbeit ein mühseliges und hartes Geschäft, erst recht, wenn dahinter nicht nur ein fehlender Schulabschluss oder mangelnde Deutschkenntnisse stehen.

Wer psychisch krank oder körperlich beeinträchtigt ist, wer soziale Probleme in der Familie hat oder kein soziales Netzwerk zur Kinderbetreuung hat, dem müssen individuelle Wege offenstehen seinen Platz in der Arbeitswelt zu finden und einzunehmen. Das ist zeitintensiv - und kostet Geld. Geld der Allgemeinheit, das gut investiert ist und ihr auf Dauer wieder zugute kommt. Eine Gesellschaft, deren Kapital die Menschen sind, kann es sich nicht leisten, einzelne vom Erwerbsleben auszuschließen oder sozial Benachteiligte gegeneinander auszuspielen. Denn dies ist Bequemlichkeit der Gesättigten. Umso wichtiger ist eine Überarbeitung der Sozial- und Arbeitsmarktreform, quasi die Reform der Reform. Sie kann ein Stück zum sozialen Frieden im Land beitragen. Denn wer den Einzelfall besser berücksichtigt, erhält auch mehr Verständnis dafür, wenn andere in Not sind und Hilfe brauchen. s.schwadorf@volksfreund.deExtra

Jeder Arbeitnehmer in Deutschland ist Pflichtmitglied der Arbeitslosenversicherung. Die Hauptleistung ist das Arbeitslosengeld I (ALG I), das einen Teil des ehemaligen Nettoeinkommens ersetzt und bis zu einem Jahr in Arbeitslosigkeit gezahlt wird. Läuft die Zahlung des ALG I aus, ohne dass nach einem Jahr eine neue Stelle gefunden wurde, wird Arbeitslosengeld II (ALG II) gezahlt. Es wurde - auch bekannt als Hartz IV - 2005 geschaffen, als die ehemalige Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt wurden. In diesem Zusammenhang wurden auch Zeitarbeit und Minijobs liberalisiert und die Sozialämter mit den Arbeitsagenturen zusammengelegt. Die Grundsicherungsleistung in Hartz IV liegt für einen Single bei 391 Euro im Monat, plus Miete und Heizkosten. Für Partner in einer Bedarfsgemeinschaft liegt der Regelsatz bei jeweils 352 Euro. Wer Hartz IV bekommt, muss jeden zumutbaren Job annehmen. Auch wenn dieser schlecht bezahlt ist. Wer sich verweigert oder Termine im Jobcenter schwänzt, riskiert Leistungskürzungen. Bei einem Hinzuverdienst beträgt die Freigrenze 100 Euro im Monat. sas

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