Interview „Wir könnten alle Luxemburger und Pendler zwei Mal testen“

Luxemburg · Der aus der Region stammende Wissenschaftler leitet ein umfassendes Coronavirus-Test-Programm in Luxemburg.

 Im benachbarten Luxemburg ist Testkapazität hoch.

Im benachbarten Luxemburg ist Testkapazität hoch.

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

() Auch Luxemburg hat nach wochenlangen strikten Ausgangsbeschränkungen und einem deutlich schärferen Lockdown als in Deutschland erste Lockerungen beschlossen. Mittlerweile sind auch die Zahlen der Sars-Cov-2-Infektionen im Nachbarland deutlich zurückgegangen. Über Luxemburgs Strategie im Kampf gegen Covid, was Deutschland daraus lernen kann und wie es dort weitergeht, sprach unser Redakteur Bernd Wientjes mit dem Geschäftsführer des Luxemburger Institut of Health (Gesundheitsinstitut), Ulf Nehrbass. Er stammt aus Kanzem (Trier-Saarburg) und kam nach internationaler Karriere 2017 nach Luxemburg.

Herr Nehrbass, auch Luxemburg hat deutliche Lockerungen der sehr strikten Ausgangsbeschränkungen und Schutzmaßnahmen angekündigt. Aus Ihrer wissenschaftlichen Sicht: Ist die Krise überstanden? Wo stehen wir bei der Pandemie?

ULF NEHRBASS Für Luxemburg kann ich sagen, dass es sehr gut aussieht. Wir hatten hier sehr hohe Infektionsraten. Die Zahl der Ansteckungen ist schnell gestiegen. Die Schutzmaßnahmen, die die Regierung angeordnet hat, wurden von der luxemburgischen Bevölkerung sehr gut eingehalten. Dadurch sind die Infektionsraten sehr plötzlich gefallen. Fast schon wie bei einer Vollbremsung. Mittlerweile hat sich das Infektionsgeschehen stabilisiert. Daher können sehr kontrollierte Lockerungen in Angriff genommen werden.

Was hat denn Luxemburg anders oder vielleicht auch besser gemacht, als Deutschland?

NEHRBASS Das kann ich nicht beurteilen. Ich glaube man hat den Zeitpunkt für die Schutzmaßnahmen richtig gewählt. Die Schulen wurden schon sehr frühzeitig geschlossen. Als die Maßnahmen angeordnet wurden, hatten wir 20 bestätigte Covid-19-Fälle in Luxemburg.

Das heißt, eine Erkenntnis aus der Pandemie ist: Je früher ein Lockdown kommt, desto besser kann man die Ausbreitung des Virus eindämmen?

NEHRBASS Das ist eindeutig so. Luxemburg hat frühzeitig sehr viel getestet.

Hat das auch dazu beigetragen, dass man sich bei Ihnen frühzeitig einen Überblick verschaffen konnte, wie das Infektionsgeschehen ist und wie die Ausbreitung verläuft?

NEHRBASS In Luxemburg wurden tatsächlich europaweit die meisten Covid-Tests pro Kopf durchgeführt. Getestet wurden alle Personen, die Symptome hatten oder glaubten, Symptome zu haben. Gleichzeitig hat die eigens eingerichtete Covid-19-Task-Force verschiedene klinische Studien initiiert. Die Wissenschaft in Luxemburg hat sich organisiert, um Erkenntnisse zu dem Virus zusammenzutragen. Ein wichtiger Punkt dabei war, wie hoch die Dunkelziffer bei den Infektionen ist. Also, wie viele Menschen haben sich infiziert, ohne Symptome zu zeigen. Das ist wichtig zu wissen, weil diese Personen weiter ansteckend sind.

Wie sieht diese Studie aus?

NEHRBASS Bei der CON-VINCE Studie handelt es sich um eine Gruppe von 1800 Personen, die die luxemburgische Bevölkerung sehr perfekt widerspiegelt. Bei diesen Personen wird nun regelmäßig getestet, ob das Virus nachweisbar ist und ob sie immun gegen Covid-19 sind. Dadurch lässt sich wie in einem Schauglas zeitlich versetzt erkennen, wie sich Lockerungen auswirken. Ob die Infektionsrate ansteigt oder wie sich die Immunität ändert. Dadurch lassen sich neue Infektionsketten frühzeitig erkennen.

Da zeigt sich dann aber der Vorteil eines kleinen Landes wie Luxemburg. In Deutschland wäre eine solche Studie in der Größenordnung vermutlich nur schwer durchführbar, oder?

NEHRBASS Das ist richtig. In dem Maße ist das in Deutschland nicht möglich. Luxemburg ist ein Land, das aufgrund seiner Bevölkerungszahl, seines Gesundheitssystems und der Forschung solche Studien sehr gut durchführen kann.

Einen ähnlichen Ansatz wie ihre CON-VINCE Studie verfolgt in Deutschland ja die sogenannte Heinsberg-Studie, bei der ein lokal begrenztes Infektionsgeschehen ausgewertet wurde, um daraus Rückschlüsse auf die gesamte Bundesrepublik ziehen zu können. Auch darin wird von einer hohen Dunkelziffer gesprochen. Wie hoch ist denn Ihrer Erkenntnis nach die Dunkelziffer bei Covid?

NEHRBASS Man kann davon ausgehen, dass auf jeden Infizierten zwischen fünf und zehn weitere kommen, die keine Symptome zeigen, aber trotzdem ansteckend sind.

In Luxemburg soll möglichst die gesamte Bevölkerung inklusive der Pendler getestet werden. Was soll damit gezeigt werden?

NEHRBASS Damit soll überprüft werden, wer positiv ist, auch ohne Symptome, bevor jemand etwa wieder arbeiten geht. Dadurch soll das Risiko verringert werden, dass es zu weiteren Infektionen kommt. Getestet werden sollen immer Gruppen von 50 000 bis 100 000 Menschen. Die hiesige Regierung entscheidet anhand der Ergebnisse, welche Gruppe wann ins Arbeits- oder Sozialleben wieder entlassen werden kann. Alle, die positiv getestet wurden, werden dann aus den Gruppen entfernt. Das ist wichtig, um die Infektionsketten, wann und wo sich also jemand angesteckt hat, nachvollziehen zu können. Je weniger Infizierte es gibt, desto leichter ist das. Zudem wird es regelmäßige Stichproben innerhalb der Gruppen geben. Sobald es eine Häufung von Infektionen gibt, könnte man wieder die gesamte Gruppe testen.

Das heißt aber nicht, dass die gesamte luxemburgische Bevölkerung nun getestet wird?

NEHRBASS Das wäre möglich, ist aber nicht geplant. Am Ende werden wir Testkapazitäten von bis zu 1,8 Millionen Tests haben. Theoretisch könnte man damit die gesamte Bevölkerung und alle Grenzgänger zwei Mal durchtesten. Damit kann vielleicht eine zweite Welle verhindert werden und gleichzeitig weitere Lockerungen erfolgen.

In Deutschland geht man einen anderen Weg. Hier sollen verstärkt Antikörpertests durchgeführt werden, um nachzuweisen, wie viele Menschen bereits immun sind gegen Covid. Wo liegt der Unterschied zum luxemburgischen Ansatz?

NEHRBASS Wenn man davon ausgeht, dass zehn Prozent der Bevölkerung eine Immunität besitzen, dann hätten 90 keine Antikörper. Dieser Teil könnte also noch infiziert werden. Außerdem ist noch gar nicht klar, ob Antikörper tatsächlich vor einer Neuinfektion schützen. Die Antikörpertestung alleine wird daher keine Aussagekraft haben über eine mögliche zweite Infektionswelle.

Was halten Sie von der hierzulande geführten Diskussion über einen Immunitätsausweis?

NEHRBASS Einen solchen Ausweis sehe ich sehr kritisch.

Wovon hängt es ab, dass es wieder eine geregeltere Normalität geben wird?

NEHRBASS Das hängt davon ab, wie schnell es eine Impfung geben wird und wie sich das Virus entwickelt, ob es etwa saisonal verschwinden wird – wovon ich nicht ausgehe. Daher glaube ich, dass es noch bis mindestens Anfang nächsten Jahres oder noch bis zu einem Jahr dauern wird, bis es eine Normalität geben kann.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort