Herr Focke und die dunkle Seite der Kirche - Ex-Heimkind berichtet von Gewalt, Vergewaltigung und Ausbeutung

Bettenfeld · Wolfgang Fockes Leben ist nicht einfach – und das war es nie. Fast 18 Jahre hat er in vier Kinderheimen verbracht. Dort wurde er nach eigener Aussage vergewaltigt, geschlagen und zu diversen Arbeiten gezwungen. Heute wohnt der 69-Jährige in Bettenfeld und kämpft noch immer für Wiedergutmachung.

Wolfgang Focke erzählt seine Lebensgeschichte. Es ist eine dieser Geschichten, die sich selbst der Autor eines Horrorromans nicht besser hätte ausdenken können. Wolfgang Focke ist eines der bekanntesten Gesichter der Missbrauchsszene. Das ehemalige Heimkind hat seine Geschichte bereits in vielen Talkshows und Zeitungen erzählt. In unzähligen Ordnern und Sammelmappen hat er penibel die Dokumente aufbewahrt, die sein Schicksal belegen. Mit seinen Ordnern ist er nun nach Bettenfeld gezogen. Von dort aus führt der 69-Jährige seinen Kampf um Wiedergutmachung und Entschädigung fort.

Sein Leben geriet bereits in der Kindheit auf die schiefe Bahn. "Meine Familie ist ein Scherbenhaufen", sagt er. Seine Mutter eiferte vielen Männern hinterher, statt sich um ihn und seine Geschwister zu kümmern. Sein Vater verschmähte ihn, nachdem ein Vaterschaftstest die Untreue seiner Mutter zweifelsfrei belegte. In seinem Elternhaus stand Gewalt auf der Tagesordnung. Sein Opa habe ihn eines Tages krankenhausreif geschlagen, weil ihm die Jacke auf den Fußboden gefallen war, sagt er. Auch sonst hätten Kleinigkeiten für eine Tracht Prügel ausgereicht.

Wegen dieser Zustände kam Wolfgang Focke als Dreijähriger in ein Kinderheim. "Vom Regen in die Traufe", wie er heute sagt. Wenn er über seine Vergangenheit spricht, treibt es ihm die Zornesröte ins Gesicht. Fast 18 Jahre durchlief er vier Heime in Nordrhein-Westfalen. 1964 verlässt der damals 21-Jährige die Obhut der Heime ohne ausreichende Schulbildung. Er kann nicht schreiben, das Lesen fällt ihm schwer. Statt zur Schule zu gehen, sei er zu vielen Arbeiten gezwungen worden, die ihm zutiefst zuwider waren.

An einen Tag erinnert er sich noch besonders gut. Damals habe er bei einem Schweinemastbetrieb gearbeitet. "Wir sind losgezogen, um Futter für die Tiere zu besorgen", sagt Focke. Mit einer leeren, schwarzen Tonne seien sie zu einer Kükenzuchtstation gefahren. Ihr Fass füllten sie mit lebenden Küken, danach ließen sie Wasser ein. Die Tonne verluden sie dann wieder auf ihren Anhänger. "Die meisten Tiere sind während der Rückfahrt ersoffen - die, die oben schwammen, nicht." Im Schweinemastbetrieb habe das letztlich keine Rolle gespielt. Er musste das Fass in eine Zerkleinerungsanlage schütten - bis auch das letzte Piepen verstummt war. Für den tierlieben Focke ein Horrorszenario. Eine Wahl habe er nicht gehabt. Tat er nicht, was ihm befohlen wurde, musste er zurück ins Heim, "und da war es auch nicht besser".

Aus seiner Zeit im Heim erzählt Focke von roher Gewalt und brutalen Vergewaltigungen. 33 Jugendliche seien auf 76 Quadratmetern untergebracht gewesen. Es gab keine Toilette, nur einen Urintopf. In der Sammeldusche hätten sich die älteren Heimkinder die jüngeren für perverse Sexpraktiken ausgesucht. "Mit mir wurde alles gemacht, was man sich nur im Entferntesten vorstellen kann", erzählt er. Auch vor Übergriffen von Diakonen sei er nicht sicher gewesen. Als er nach einer Vergewaltigung im Schritt blutete, habe er sich mit zwei Peinigern der Heimleitung stellen müssen. "Statt Trost gab es Schläge mit dem Rohrstock."

Focke dachte oft daran, einfach abzuhauen. 101 Mal ist es ihm gelungen, bis er doch wieder irgendwo aufgegriffen wurde. Das geht aus den Aufzeichnungen der Heime hervor, die Focke penibel dokumentiert hat. Das war eines Tages dann auch der Startpunkt seiner kriminellen Karriere, die ihn insgesamt 20 Jahre hinter Gitter brachte. Für seine letzte Flucht aus dem Heim, klaute er ein Fahrrad mit Hilfsmotor.

Das Gericht verurteilte ihn zu zwei Jahren und neun Monaten Haft. Neun Monate musste er davon mindestens absitzen. Bis zu zwei weitere Jahre konnten es werden, wenn er gegen die Gefängnisordnung verstoßen hatte. "Das nannte man damals Gummistrafe." Gegen die Ordnung zu verstoßen, sei leicht gewesen.Ein halbes Jahr habe er zusätzlich bekommen, weil er sich in seiner Zelle auf einen Stuhl stellte, um aus dem Fenster zu gucken. Ein weiteres halbes Jahr bekam er, weil er einem Wärter widersprochen hatte. Die restlichen Jahre im Gefängnis hatte er seinem Temperament zu verdanken: "Bei mir hat es erst auf die Fresse gegeben, und danach habe ich gefragt, was los war." Focke saß wegen Körperverletzung, Zuhälterei und Betrugs im Gefängnis. Seine Stimme wird lauter: "Ich bin nicht kriminell", sagt er. "Die Kirche hat mich zum Verbrecher gemacht."

Mit 41 Jahren beendete er seine Knastkarriere. Sein neues Leben begann er in Trier. Dort wurde er Friedhofsgärtner in St. Paulin. Er arbeitete hart. Das hatte er im Heim gelernt. "Zu hart", sagt er. Seinen Rücken habe er sich kaputt geschuftet. Später lebte er dann in Thalfang und jobbte ehrenamtlich als Justizhelfer hinter Wittlicher Knastmauern.
Focke ist arm. Für seine Arbeit in den Heimen hat er keinen Lohn bekommen, im Gefängnis auch nicht. Die Rente, die er heute bezieht ist karg. "Mein Leben hätte ganz anders verlaufen können", sagt er. Sein Vorwurf richtet sich an die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD), die für die Heime zuständig ist, in denen Focke untergebracht war. Auch heute noch kämpft der 69-Jährige für Wiedergutmachung.

Ab 2008 befasste sich der Runde Tisch Heimerziehung des Bundestags mit diesen Vorwürfen. Dem Runden Tisch ging eine Petition des Vereins ehemaliger Heimkinder voraus, dessen Vorsitzender zu dieser Zeit Wolfgang Focke war. Aus dem Abschlussbericht geht hervor, dass das Expertengremium den Berichten vieler Heimkinder der 1950er und 1960er Jahren glaubt - darunter auch den detaillierten Schilderungen Fockes.

2013 kaufte ihm die Diakonie sein Haus in Lüdge (Nordrhein-Westfalen) für 68000 Euro ab. Damit verbunden war ein lebenslanges Wohnrecht für Focke. Er nahm den Deal an. Verdient hat er daran nichts. Das Haus gehörte ohnehin mehr der Bank als ihm selbst. Zumindest ist er seitdem schuldenfrei. In einem ersten Vertragsentwurf habe es eine Verschwiegenheitsklausel gegeben, sagt Focke. Die lehnte er vehement ab. "Ich wollte mich von den Kirchenfürsten nicht mundtot machen lassen."

In den beiden Jahren nach dem Kauf sei er mit der Diakonie mehrfach aneinandergeraten. Grund waren die aus seiner Sicht zu hohen Nachzahlungen für Strom und Heizung. Focke flüchtete noch einmal - und lebt seit einem halben Jahr in einem kleinen Haus in Bettenfeld.

Seine Burg, wie er sagt. Aufs Land ist er gezogen, weil er sich ein Haus in der Stadt nicht leisten kann. Eine Mietwohnung kommt für ihn nicht mehr infrage. Das hat er schon versucht. "Wenn ich die Hausordnung im Flur sehe, fühle ich mich schon unwohl." Dafür habe er zu vielen Ordnungen in seinem Leben folgen müssen.
Von der evangelischen Kirche fordert Focke noch 38?000 Euro als Entschädigung. Gegen den Staat klagt er außerdem auf Erhalt einer Opferrente.

Sein letzter Wunsch ist es aber, noch einmal mit den Verantwortlichen in einer Talkshow zu stehen. Er wünscht sich eine ehrliche und aufrichtige Entschuldigung von der Kirche. So lange will Focke unbequem bleiben und die Öffentlichkeit suchen: "Das bin ich mir und den anderen Missbrauchsopfern schuldig."

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