Zeitgeschichte Spannender Nachlass aus Wittlich: Auf den Spuren von Säubrennerkirmes-Erfinder „Mehsen Matti“

Wittlich · Der Historiker Michael Wildt von der Berliner Humboldt-Universität durchstöbert die Tagebücher und den Nachlass des Politikers und Säubrennerkirmes-Erfinders Matthias Joseph Mehs. Denn der hat den Nazis gehörig auf der Nase herumgetanzt.

 Der Historiker Michael Wildt unterhält sich mit Maria Weins-Mehs, der Tochter von Matthias Joseph Mehs, über ihren Vater.

Der Historiker Michael Wildt unterhält sich mit Maria Weins-Mehs, der Tochter von Matthias Joseph Mehs, über ihren Vater.

Foto: TV/Franz-Josef Schmit

März 1933: Hakenkreuzflaggen wehen über dem Wittlicher Rathaus. Die Nationalsozialisten haben es mit knapp 500 Stimmen auf gerade mal drei Sitze im Stadtrat gebracht, weit abgeschlagen hinter der Zentrumspartei mit neun Sitzen. Trotzdem inszenieren sie sich als Sieger. In der allerersten Sitzung nach den Wahlen stellen sie einen unverschämten Antrag: Adolf Hitler – erst seit wenigen Wochen Reichskanzler, er hat nie einen Fuß in die Stadt gesetzt – soll Ehrenbürger von Wittlich werden. Doch im Stadtrat sitzt auch Matthias Joseph Mehs.

„Mehsen Matti“, wie die Wittlicher ihn nennen, weiß noch nicht, dass er selbst eines Tages verdienter Ehrenbürger wird, als er den Antrag subtil sabotiert. Man solle erst mal einen Ausschuss ins Leben rufen, schlägt er vor, der die Verdienste Hitlers um die Stadt Wittlich überprüft. Und dieser Ausschuss kommt einfach nicht  zu Potte, die NSDAP-Mitglieder besuchen die Sitzungen nicht, der Antrag läuft ins Leere.

Der Historiker Dr. Michael Wildt erklärt: „Mehs war ein erfahrener Kommunalpolitiker; er wusste ganz genau, dass er den Antrag der Nazis mit diesem bürokratischen Aufwand komplett ausbremste.“ Wildt ist Professor an der Berliner Humboldt-Universität. In seinem neuen Buch über die deutsche Geschichte zwischen 1918 und 1945 soll Wittlich eine wichtige Rolle spielen. Denn er möchte erklären, wie sich die deutsche Gesellschaft in dieser Zeit so schnell so stark verändern konnte, und das müsse man „von unten beschreiben, aus der Alltagsperspektive, aus einem lokalen Blickwinkel“. Dazu fährt Wildt selbst quer durch Deutschland.

Auf Wittlich ist Wildt durch Matthias Mehs’ Tagebücher aufmerksam geworden. Die seien für seine Forschung sehr wertvoll, denn: „Mehs war ein aufmerksamer Beobachter, ein kluger Politiker und kannte als Gastwirt sehr viele Menschen.“ Darum kommt Wildt in die Säubrenner-Stadt, stöbert im Kreisarchiv, trifft sich mit Mehs’ Tochter Maria Weins-Mehs, hält kurzfristig einen Vortrag über seine Forschung in der Kultur- und Tagungsstätte Synagoge Wittlich.

 Die Tagebücher von „Mehsen Matti“ dienen Michael Wildt als wertvolle historische Quelle.

Die Tagebücher von „Mehsen Matti“ dienen Michael Wildt als wertvolle historische Quelle.

Foto: TV/Stadt Wittlich

Wieso verfallen auch die streng katholischen Bewohner Wittlichs, die noch 1933 vor allem die bürgerlich-konservative Zentrumspartei wählten, schließlich nach und nach den Nazis? Wildt glaubt, dass der Begriff „Volksgemeinschaft“ viel zum Verständnis dieser Entwicklungen beiträgt: Noch im Ersten Weltkrieg steht der Begriff für Einheit und Gleichheit und schließt die unterschiedlichsten Menschen mit ein, Parteien aller Richtungen benutzen ihn. „Doch die Nazis definierten die Volksgemeinschaft nicht mehr danach, wer dazugehört“, erklärt Wildt, „sondern danach, wer nicht dazugehört“.  Wer für sie nicht dazugehört, ist ganz klar: Juden, Kommunisten, Homosexuelle, Bettler, Behinderte und viele mehr. Die Nazis pervertieren die Volksgemeinschaft, machen sie zum Mittelpunkt einer „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“-Ideologie.

Die Wittlicher sollen an Hitlers Geburtstag Flaggen an ihre Häuser hängen. „Da musste aber keine Hakenkreuz-Flagge hängen, sondern einfach irgendeine“, erklärt Wildt. Wichtig ist nicht, dass jeder Bürger überzeugter Nazi ist, sondern dass sofort zu erkennen ist, wer sich an der Feier beteiligt, wer sich der Volksgemeinschaft unterordnet – und wer nicht dazugehört. Mehs will nicht dazugehören. „Wir flaggen nicht!“, schreibt er in sein Tagebuch. Sein Vater hängt jedoch die rot-weiße Flagge der Stadt Wittlich ans Haus – man ist kein Nazi, aber man will auch keinen Ärger. Diese Kompromissbereitschaft, das Ignorieren, das Tolerieren, das Akzeptieren, ist es, das schließlich in vorauseilenden Gehorsam umschlägt, erklärt Wildt. Auch Mehs ist kein Heiliger: Er schreibt in seinen Tagebüchern vom „zersetzenden jüdischen Geist“. Doch den Boykott der jüdischen Geschäfte am Wittlicher Markt und die Verwüstung der Synagoge bezeichnet er als „ekelerregend, unmenschlich, unchristlich“, einen „Schandfleck der deutschen Kultur“. Er zieht sich bis nach dem Krieg aus der Politik zurück (siehe Info). Mehs gehört nicht zu den Nazis – und auch nicht zu ihrer Volksgemeinschaft.

„Nicht jeder, der den Begriff ‚Volksgemeinschaft‘ vor 1933 benutzte, war ein Nazi“, sagt Wildt. „Aber wer ihn nach 1945 immer noch benutzt, der ist nicht auf eine wirkliche Gemeinschaft aus, sondern auf Ausgrenzung.“

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